Neben den klassischen drei Symptomgruppen der
      Kernsymptomatik - Impulsivität, Hyperaktivität,
      Aufmerksamkeitsstörung - hat der
      amerikanische Neuropsychiater Russel A. Barkley in seinem Buch ADHD and
      the Nature of Self-control (1997) vier zentrale Bereiche kognitiver
      Beeinträchtigungen beschrieben, in welchen seinen Forschungen zufolge
      die Hyperkinetische Störung zu Auffälligkeiten führe. (1) Da Barkley
      die dargelegte Symptomatik in ihrer Einheit auf eine Störung der Exekutiven
      Funktionen im präfrontalen Cortex zurückführt, hat er für die
      gebräuchlichen Begriffe Hyperkinetische Störung (HKS) und Aufmerksamkeitsdefizit-
      / Hyperaktivitätsstörung (ADHS) den Namen Behavior Inhibition
      Disorder - Störung der Verhaltenshemmung - vorgeschlagen.
      Entscheidend ist demnach die Schwierigkeit der von der Störung
      betroffenen Menschen, ihr Verhalten angemessen und an die Umwelt angepasst
      zu regulieren. Hyperaktivität und Aufmerksamkeitsdefizite sind in diesem
      Konzept weniger die Kernsymptome als vielmehr die Folge der eigentlichen
      Beeinträchtigung: einer ungenügenden Kontrolle der Impulse.    | 
    Not only is there a
      overwhelming evidence thqt ADHD involves a deficit in behavioral
      inhibition, but there is also suggestive evidence from developmental
      psychology of the inverse relationship. Early deficits in behavioral
      inhibition appear to be associated with increased risks for later symptoms
      of ADHD.
       Russel A. Barkley 
      ADHD and the Nature of Self-Control (1) S.82  | 
  
  
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    Internalisierung selbstgerichteter Rede: Die
      Internalisierung, d.h. die Verinnerlichung von Selbstgesprächen, mit
      welchen das eigene Verhalten durch Bewusstmachung von Regeln und
      Anforderungen gesteuert wird, gelingt nur schwer. Normalerweise können
      bereits Kleinkinder ihr Handeln über innere "Monologe" steuern,
      in denen sie gelernte Strukturen des eigenen Verhaltens wiederholen (z.B.
      "Erst die Schuhe ausziehen, dann in die Wohnung gehen!"). Eine
      mangelnde Internalisierung von an sich selbst gerichteter Rede hat über
      das Handeln hinaus auch direkten Einfluss auf das Denken und die
      Konzentrationsfähigkeit. | 
      Defizite in: 
      - Selbststrukturierung 
      - Verhaltenssteuerung 
      - Ordnung von 
        erlernten Abläufen 
      - Konzentration | 
  
  
    | Die von Barkley genannten Symptome sind nicht
      Bestandteil der Kernsymptomatik, wie ICD-10 und DSM-IV sie auflisten.
      Dennoch beschreiben sie die Hyperkinetische Störung in einer Weise, die -
      verfügt man über die geeigneten Testverfahren - jenseits der sozial
      vermittelten Verhaltensweisen das biologische Fundament der
      Verhaltensstörung diagnostisch greifbar macht (vgl. Diagnose).
      Insofern nimmt Barkley die Konsequenzen aus seinem Modell natürlicher,
      d.h. weitenteils genetisch bedingter Einschränkungen der Selbstregulation
      und des Lernens sehr ernst.
       Wie ich bereits sagte, ist der genetisch festgelegte Anteil an den
      Symptomen des ADHD dem vergleichbar, der die Körpergröße eines Menschen
      bestimmt (ungefähr 80%). Wenn wir uns aber dies ins Bewusstsein rufen, so
      wird uns klar, wie unsinnig es ist, moralische Urteile über den Wert oder
      Charakter oder die Eltern jener Menschen zu fällen, die kleiner sind als
      wir. Aber sollte es uns dann nicht eben gleich unsinnig anmuten,
      moralische Urteile über den Wert, Charakter oder die Eltern jener
      Menschen zu fällen, welche mehr Symptome des ADHD zeigen oder über
      weniger Selbstkontrolle verfügen als wir?
      
       
      Diese
      Überlegung führt uns zu einer genauso interessanten wie provokativen Schlussfolgerung.
      Sind wir nämlich nicht dazu aufgerufen, jene mit ADHD oder weniger
      Selbstkontrolle dafür bloßzustellen, dass ihnen die Selbstregulation
      nicht gelingt – ist es dann recht, jene zu loben, die über eine außerordentlich
      gute Selbstkontrolle verfügen und daher große gesellschaftliche Achtung
      erfahren? Und macht es Sinn, Eltern für Leistungen ihrer Kinder zu würdigen,
      die vielmehr einer solch außergewöhnlichen Selbstkontrolle entspringen?!
      Wenn die Eltern von Kindern mit ADHD nicht für den kindlichen Mangel an
      Selbstkontrolle zu verurteilen sind, so benötigen die Eltern von Kindern
      mit besonderer Selbstkontrolle auch nicht so sehr unsere Bewunderung. Und
      als eine Konsequenz dieser Perspektive: Stünde uns nicht ein bisschen
      mehr Bescheidenheit an im Urteil über den Lebenserfolg eines Menschen
      oder dem seiner Kinder, der doch auch eine Folge ererbter außergewöhnlicher
      Selbstkontrolle ist?
      Russell
      A. Barkley (1) S.319 
      ADHD and the Nature of Self-control 
      Übersetzung: J. Streif 
         | 
    
       Es gab Zeugnisse, und dazu musste ich nicht nur in
      die Schule gehen, sondern auch die Schmach ertragen, mit dem Formular die
      Lehrer einzeln abzuklappern, damit sie ihre Noten eintragen und
      unterschreiben konnten. Schließlich musste ich die Hiobsbotschaft mit
      nach Hause nehmen und meinen Eltern zeigen. [...] »Was
      ist, wenn ich das einfach nicht unterschreibe?« fragte meine Mutter mich. 
      »Ich weiß nicht. Werde ich dann von der Polizei abgeholt?« 
      »Mach keine Witze«, sagte sie. 
      »Ach komm, Mom, so schlimm ist das doch gar nicht. Immerhin bin ich nicht
      durchgerasselt, schließlich habe ich die neunte Klasse bestanden.« 
      »Das ist schlimm«, widersprach sie ganz traurig. »Ich glaube, dir ist
      gar nicht klar, wie schlimm das ist.« Danny Sugerman 
      Wonderland Avenue 
      Maroverlag (1991) S.94  |