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      Viehhaltung und Geschrei ...
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    Halten 
      Haltung 
      Aushalten 
      Festhalten 
      Verhalten 
      Vorhalten 
      Enthaltsam 
      Unterhaltung 
      Verhältnis | 
    Vielleicht finden Sie die Überschrift ein wenig
      ungewöhnlich. Sprachwissenschaftler glauben aber, dass unser heutiges
      Wort Verhalten seine Quelle in diesem Bedeutungszusammenhang
      hat. Vor und 1500 Jahren gebrauchte man das germanische "haldan"
      als Begriff für das Viehhüten. Noch früher gab es wohl einen Wortstamm
      "kel", aus dem sich "kal" und "hal"
      entwickelten. Der gleiche Stamm ist heute auch noch in Worten wie Hall oder
      holen (im Sinne von: jemanden rufen) enthalten. "kel"
      bedeutete im Indogermanischen* soviel wie rufen, schreien, lärmen.
      Das heutige Wort Verhalten selbst ist eine Schöpfung des 17.
      Jahrhunderts. Damals begann man sich in Europa erstmals ausdrücklich für
      Erziehung zu interessieren, während Kinder zuvor in der Gesellschaft
      entweder bedeutungslos waren oder wie Erwachsene behandelt wurden.
      Trotzdem gibt es freilich auch aus dem europäischen Mittelalter
      überlieferte Texte, die sich mit Kindern und der Liebe zu ihnen befassen.
      Aber alles "Verhalten" begann einmal mit Viehhaltung und
      Geschrei ... | 
   
  
    
       
      Verhalten - Hemmen - Benehmen
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    | Kleine Kinder haben häufig ein schlechtes
      Benehmen. Sie leben nur dem Augenblick und verschwenden keinen Gedanken an
      die Zukunft. Sie lieben Spiele und sinnlosen Zeitvertreib und weigern
      sich, sich mit einträglichen und nützlichen Dingen zu beschäftigen.
      Unwichtiges sehen sie als wichtig an und umgekehrt schätzen sie Wichtiges
      gering oder gar nicht. Sie wollen Dinge haben, die ihnen schaden könnten,
      und lieben Bilder mehr, als Erwachsene dies tun. Der Verlust eines Apfels
      oder einer Birne hat mehr Tränen und Klagen zu Folge als der Verlust des
      Erbteils. Erwiesene Wohltaten pflegen sie zu vergessen. Sie wollen alles
      besitzen, was sie sehen, und versuchen es mit den Händen und mit Geschrei
      zu erlangen. [...] Bald weinen sie, bald sind sie fröhlich; fortwährend
      schreien, kichern und lachen sie; kaum dass sie einmal ruhig sind, wenn
      sie schlafen oder träumen. Kaum gewaschen sind sie schon wieder
      schmutzig; und gegen Waschen oder Kämmen wehren sie sich nach
      Leibeskräften.
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    Bartholomaeus Anglicus 
      
      De rerum proprietatibus 
      Frankfurt (Main) 1601 
      zitiert nach: Horst Wenzel 
      
      Kindes Zuht und Wibes Reht. Zu einigen Aspekten von Kindheit im
      Mittelalter 
      in: H.-J, Bachorski 
      Ordnung und Lust:  
      Bilder von Liebe, Ehe und Sexualität in SpMittelalt. und Früher Neuzeit 
      WVT (1991) 152f.
        
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    | Bartholomaeus Anglicus, ein englischer
      Franziskanermönch des 13. Jahrhunderts, hat diese Beschreibung kindlichen
      Verhaltens verfasst. Vor fast 800 Jahren. Dennoch erscheint uns die
      Charakterisierung des Kindseins noch heute als aktuell und gültig. In der
      Geschichts- und Literaturwissenschaft hat man lange Zeit darüber
      gestritten, ob - wie der französische Historiker Philippe Ariès in
      seinem berühmten Buch Geschichte der Kindheit schrieb -
      Kindsein eine Entdeckung der Neuzeit wäre. Tatsächlich findet man bis
      1600 selten Gemälde von Kindern, in denen diese auch als Kinder
      dargestellt werden. Auf den meisten Bildern der Zeit davor sehen sie eher
      wie geschrumpfte Erwachsene aus - mit fein gegliederten Händen und einem
      ausgeprägten Gesichtsausdruck. Natürlich verfügten die Künstler über
      die technischen Fähigkeiten, Kinder naturgetreu zu malen, wenn sie doch
      Erwachsene, Gebäude oder Landschaften realistisch darstellen konnten.
      Aber Kinder malten sie nicht. Aus einem einfachen Grund: Das Kindsein war
      für die damalige Gesellschaft ohne Bedeutung. Die meisten Kinder starben
      vor dem 5. Lebensjahr. Man liebte sie, aber man verlor sie auch. So
      häufig, dass der Schmerz unermesslich gewesen wäre, wenn man in jedes
      neugeborene Kind die Hoffnung auf eine große Karriere gelegt hätte. Daher
      ließ man Kinder meist gewähren, bis sie ein Alter erreichten, in dem
      sie für die Familie von Wert waren: bis sie arbeiten konnten. Dann
      behandelte man sie allerdings sogleich wie Erwachsene, mit allen
      Konsequenzen.
         
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    | Du müsstest ja ein grober, undankbarer
      Klotz und rechtens von den Menschen zu den Tieren zu jagen sein, wenn du
      sähest, dass dein Sohn ein Mann werden könnte, der dazu beiträgt, dem
      Kaiser sein Reich, Schwert und Krone zu erhalten, dem Fürsten sein Land
      zu regieren, Städten und Ländern beizustehen und zu helfen, so manchem
      seinen Leib, sein Weib, Gut und Ehre zu schützen, und du wolltest nicht
      so viel daran setzen, dass er lernen und so weit kommen könnte.
       Martin Luther 
      Eine Predigt Martin Luthers, dass man Kinder zur Schule halten solle
      (1530) 
      zitiert nach: Martin Luther. Ausgewählte Schriften 
      Insel (1982) Bd. V S.121  | 
    Verhalten war schon immer ein Begriff, den man
      nur abhängig von der Gesellschaft verstehen konnte. Bereits die Antike
      kannte Erziehungsratgeber und Klagen über die verkommenen Sitten der
      Jugend. Dass sich die Menschen bis zur Neuzeit vom Verhalten eines Kindes
      aber keine eigenständige, vom Leben der Erwachsenen unabhängige
      Vorstellung machten, lag daran, dass man sich eine andere Lebensform als
      die eigene gar nicht vorstellen konnte. Kinder traten zwangsläufig in
      die Verhältnisse ihrer Eltern ein, sei es als Bauern, Fürsten oder
      Handwerker. Die Menschen glaubten schlicht, dass jeder zugrunde gehen
      muss, der sich gegen die Gesellschaft stellt. Deshalb war beispielsweise
      die Verbannung aus der Gemeinschaft ein der Todesstrafe nahekommendes
      Urteil, auch wenn der Verbannte schon im Spätmittelalter meist an einen
      anderen Ort ziehen konnte. Verhalten als Inbegriff einer bestimmten
      Lebensform, als innere Verpflichtung auf die Regeln der Gesellschaft - das
      machte erst Sinn, als durch den Aufstieg des Bürgertums, Entdeckerreisen
      und Weltpolitik andere Lebensformen ins Blickfeld einer größeren Zahl
      von Menschen rückten. Jetzt konnte man sich durch ein bestimmtes
      Verhalten profilieren. In den vom Bürgertum beherrschten europäischen
      Großstädten konnte man vom Handwerker oder Händler zur Oberschicht
      aufsteigen. Nun war es von Bedeutung, dass man ein persönliches
      Lebensziel hatte und es ehrgeizig verfolgte. Der Kapitalismus der Neuzeit
      beginnt mit der Reformation, dem Bekenntnis der großen Städte in
      Deutschland und der Schweiz zum Protestantismus. Und die eigentliche
      Erziehung der Kinder beginnt nicht von ungefähr mit Luther, dem Vater der
      Reformation. | 
   
  
    
       
      Sich zwingen, sich anzupassen
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    | Die Veränderung, die mit dem Menschen im
      europäischen Spätmittelalter und dann vor allem in der Neuzeit
      geschieht, nennt der Historiker und Soziologe Norbert Elias das Entstehen
      der "Selbstzwangapparatur". Das mag nach Gewalt klingen,
      ist aber eher das Gegenteil davon, wenn man sich unter Zwang eine äußere
      Macht vorstellt. Elias meint im Grunde etwas sehr Einfaches und
      Einleuchtendes. Er beschreibt zum Beispiel anhand von alten Texten, dass
      die Menschen, bevor es Uhren gab, von Vorgesetzten geweckt wurden, wenn
      sie arbeiten mussten. Mit der Erfindung des Uhrwerks, das ohne Licht
      funktionierte, läutete und schließlich immer kleiner wurde, konnte man
      eine Uhr bei sich zuhause haben - und der Arbeitgeber vertraute darauf,
      dass man selbständig aufstand und pünktlich zur Arbeit erschien. Man
      musste sich selbst darum kümmern, wenn man den Arbeitsplatz behalten
      wollte. In den Städten des Mittelalters war von der Arbeit über die
      Kleidung bis zur Musik bei Festen alles aufs Genaueste geregelt. Wer gegen
      die Gesetze verstieß, wurde empfindlich bestraft. Im Bürgertum des 19.
      Jahrhunderts gibt es die meisten dieser örtlichen Vorschriften nicht
      mehr. Respektiert und akzeptiert war aber nur derjenige, der sich
      zu benehmen wusste. Heute gibt es praktisch keine Einschränkungen mehr,
      welchen Beruf man erlernt, was man anzieht oder welche Musik man auf
      Privatfesten hört. Wer aber im Beruf erfolgreich sein möchte oder
      gesellschaftlich "in", der muss sich den Erfordernissen des
      Marktes und den Launen der Mode anpassen.
       Der Umstand, dass die heutigen westlichen Gesellschaften viele
      Verhaltensweisen kennen, bedeutet noch lange nicht, dass sie ein
      bestimmtes Verhalten bei jeder Person und/oder in jeder Situation
      akzeptieren. Für Kinder ist es daher so schwierig wie nie zuvor, zu
      lernen und zu verstehen, welches Verhalten man wann von
      ihnen verlangt. Das gleiche gilt letztlich auch für uns Erwachsene,
      obwohl die Mehrheit eine feste gesellschaftliche Position erreicht hat und
      sich meist über Jahrzehnte in der gleichen Welt von Familie, Arbeit und
      Freizeit bewegt. Verhalten ergibt sich jetzt aber nicht mehr von selbst.
      Es ist eine Handlung, über die wir bei unserer Lebensplanung immer wieder
      neu nachdenken müssen. Wie verhalten wir uns diesem Menschen, dieser
      Sache gegenüber? Auch wenn uns vieles im Alltag nicht gefällt - wir
      bewahren die Haltung! Früher war das vielleicht mal ein Bild für
      Rückgrat bis zur Sturheit. Heute ist es der Satz, mit dem wir unsere
      hartnäckige Anpassung an die Umwelt begründen. Verhalten ist kein
      abgeschlossenes Muster an Handlungsweisen mehr - es ist ein
      veränderliches, lernendes Verhältnis zur Welt.   | 
    Damit wird also auch das Verhalten derer,
      die ehemals Unterschichten waren, mehr und mehr in eine Richtung gedrängt,
      die sich zunächst auf die abendländischen Obertschichten beschränkte.
      Es wächst im Verhältnis zu diesen ihre gesellschaftliche Stärke; aber es
      wächst auch das Training zur Langsicht, wer immer es zunächst leiten,
      wer immer dieser Langsicht die Denkmodelle geben mag; auch auf sie wirkt
      mehr und mehr jene Art von Fremdzwängen, die sich im Individuum zu
      Selbstzwängen umformt [...]
       Norbert Elias 
      Über den Prozess der Zivilisation 
      stw 159 ( 1976) Bd.2 S.341 
        
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      Verhalten trainieren
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      Ich hatte schon als Schüler gelernt, alleinstehen zu
      können. Ich bin nicht mutig, ich bin kein Held, ich habe niemals mein
      Leben riskiert, ich würde mich sehr hüten, es zu riskieren. Es müsste
      ein Äußerstes auf dem Spiel stehen, wenn ich es vielleicht täte. Aber etwas
      anderes habe ich von früh an verwirklicht: Prestige und Ansehen
      imponieren mir nicht. Ich nehme keine Rücksicht auf das, was man von mir
      denken mag. Was mir als das Rechte einleuchtet, sage ich und handle
      danach, sofern ich eine Aufgabe für mich darin sehe. 
      Karl Jaspers 
      Schicksal und Wille 
      zitiert nach: H. Horn (Hrsg.) 
      Karl Jaspers. 
      Was ist Erziehung? 
      Piper (1992) S.379  | 
    "Lernen lernen", das ist ein
      Schlagwort unserer Tage. Psychologen und Pädagogen veranstalten zu diesem
      Thema Kongresse, Politiker fordern in diesem Sinne ein sich selbst
      reformierendes Bildungssystem und die Wirtschaft wünscht sich
      Mitarbeiter, die sich möglichst selbständig und kostenfrei an
      veränderte Anforderungen anpassen. Was heißt das aber genau: das Lernen
      zu lernen?
       Wenn man kleine Kinder beobachtet, dann wird einem rasch klar, dass sie
      von uns Erwachsenen übers Lernen sicherlich kaum was lernen können. Die
      ersten Schuljahre in deutschen Grundschulen sind eher ein eindrucksvolles
      Zeugnis dafür, wie man Lernen verlernen kann - vor allem die Freude am
      Lernen. Die vielfach von Pädagogen und Eltern beklagte Unfähigkeit der
      Kinder, selbständig lernen zu können, ist eigentlich keine unmittelbare
      Schwierigkeit mit der Selbststeuerung, sondern mit dem Stoff. Wie soll man
      bei so vielen stumpfsinnig zu wiederholenden Inhalten denn Spaß am Lernen
      haben?! Wenn man nicht kapiert, wozu man's braucht, dann motiviert weder
      das Lernen selbst noch sein Ergebnis. Gute Schüler sind in unserem
      Schulsystem solche, die frühzeitig einsehen, dass sie eben nicht fürs
      Leben, sondern für die Schule lernen. Nicht das Wissen ist wichtig -
      die Noten sind es. Deshalb ist eine erfolgreich übersprungene Schulklasse
      auch kein Zeichen für Intelligenz, sondern für ausgelassenen Schulstoff.
      Und das Abitur steht nicht für Bildung, sondern für den formalen
      Eintritt in die Universität. 
      Wenn es eine Kunst des Lernen-Lehrens gibt, dann die, Kindern die
      Zweiseitigkeit des Lernens zu vermitteln: zum einen die Freude am Wissen
      und Können, zum anderen die Einsicht in die Notwendigkeit guter Zeugnisse
      trotz zweifelhaften Unterrichts. Das ist auch die Kunst des Verhaltens:
      Sich den Anforderungen der Gesellschaft anzupassen, ohne eigene
      Vorstellungen und Interessen aufzugeben. In diesem Sinne kann man das
      Verhalten trainieren, wie man das Lernen lernen kann. Es geht darum, Dinge
      und Verhältnisse "im rechten Licht" zu sehen, d.h. in ihrer
      Bedeutung zu erfassen. Daher heißt das Programm von therapaed
      auch ganz deutlich Verhaltenstraining. Trainieren
      sollen beide Seiten: die Kinder und die Erwachsenen. Während
      die Kinder lernen müssen, dass ein bestimmtes Verhalten in der
      Gesellschaft bestimmte Konsequenzen zeitigt, müssen die Erwachsenen
      lernen, immer neu die Sprache ihres sich weiterentwickelnden Kindes zu
      sprechen, um ihm diese Konsequenzen begreifbar darzustellen. Das Verhältnis
      zwischen Kindern und Erwachsenen macht entscheidend den Erfolg dieses
      Bemühens aus.  | 
   
  
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       * Indogermanisch: Eine rekonstruierte Sprache als
      Wurzel einer Vielzahl von indischen, iranischen, armenischen,
      griechischen, lateinischen, slawischen, baltischen, romanischen,
      keltischen und germanischen Sprachen, die zusammen die indogermanische
      Sprachfamilie bilden  | 
    
        
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