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    | 
       Graham Holt lebt allein mit seinem
      pflegebedürftigen Vater als Posthalter in einer kleinen englischen Stadt.
      Eines Tages entschließt er sich, den 10-jährigen verhaltensauffälligen
      James zu adoptieren. Im Kinderheim schauen sie gemeinsam Fotoalben und
      James Heimtagebuch an. 
      Second Best 
      ein Film von 
      Chris Menges 
         | 
    Graham: | 
    It is more disturbing than exciting. | 
   
  
    | James: | 
    That's what they say I am: disturbed! | 
   
  
    | Graham: | 
    What do you say? | 
   
  
     | 
    deutsch: | 
   
  
    | Graham: | 
    Es ist eher verstörend als aufregend. | 
   
  
    | James: | 
    Das sagen sie von mir: verstört! | 
   
  
    | Graham: | 
    Und was sagst Du dazu? | 
   
  
     | 
     | 
   
  
     | 
    aus dem Film "Second
      Best" - in Deutschland "Probezeit" - mit Chris Cleary Miles
      (James) und William Hurt (Graham Holt). | 
   
  
     | 
     | 
     | 
   
  
    
       
      Von der Normalität und vom Gestörtsein
     | 
   
  
     | 
     | 
   
  
    | Was ist normal und was ist gestört? Im Alltag
      wissen wir unbewusst ziemlich genau, was normal ist und was nicht. Aber
      wenn wir darüber nachdenken: Was macht die Normalität eigentlich aus?
      Und ist wirklich alles gestört, was von ihr abweicht? | 
      | 
      | 
   
  
     
      In Wörterbüchern wird normal einfach als "der Norm
      entsprechend" erklärt - "so beschaffen, wie es sich die
      allgemeine Meinung als das Übliche, das Richtige vorstellt" (Duden
      Deutsches Universal Wörterbuch). Wie aber sieht in unserer Gesellschaft
      die allgemeine Meinung über Kinder aus? Und wie ist mein Kind eigentlich
      genau "beschaffen"?! | 
    
      Mein übliches Kind
     | 
   
  
     | 
     | 
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      Mein besonderes Kind
       
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      Normalerweise ist mein Kind unruhig. Seit es gehen kann, ist es
      immer unterwegs. Es ist laut. Es ist häufig wütend und beleidigt. Mit
      meinem Kind hat man dauernd Ärger - nicht nur ich, sondern auch die
      Nachbarn, die Lehrer, sein Bruder. Normalerweise kann es keine 10
      Minuten ruhig dasitzen und einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen.
      Außer es schaut Fernsehen. Da gibt's allerdings auch selten ein
      sinnvolles Programm. Wenn es darauf ankommt, kann mein Kind auch normal
      sein. Das ist dann aber auch was Besonderes ...
         | 
   
  
    Doch meine
      Mutter war nicht beruhigt. 
      Sie habe schon immer gewusst, sagte sie zu Doktor Santens, dass ich nicht
      normal sei. 
      Sie habe schon immer geglaubt, dass ich anders sei als andere Kinder. Sie
      habe... Nachdem sie einmal damit angefangen hatte, war meine Mutter nicht
      mehr zu bremsen. Sie zählte die Liste der Dinge auf, die ihr schon immer
      an mir aufgefallen waren. Sie ließ nichts aus, obwohl Doktor Santens
      alles längst wusste. 
      Das konnte lange dauern.
      Willy van Doorselaer 
      Ich heiße Kaspar 
      Carl Hanser (1995) S.9 
         | 
    Niklas hat viele
      Schwächen. Aber er hat auch liebenswerte Züge - und besondere
      Talente. Er ist sehr schlau, nicht nur geschickt. Er versteht die
      Menschen, v.a. andere Kinder. Er kann sich in ihre Situation
      hineinversetzen. Er kann die Perspektive von anderen einnehmen, auch wenn
      er das oft nicht konstruktiv nutzt. Ab und zu hilft er, besonders
      dann, wenn niemand es erwartet. Er hat mehr Kraft als alle anderen in der
      Familie zusammen: mehr Energie, etwas zu tun, seine Ziele zu verfolgen. Er
      ist nicht kreativer als andere Kinder, aber er versucht mehr. Sein Gefühl
      für Gerechtigkeit ist nicht ungewöhnlich, aber sein Einsatz für die
      Rechte von anderen ist groß. Er hat so viele Probleme und ist doch so
      leicht zum Lachen zu bringen. Vielleicht das Wichtigste, das Besondere
      an ihm: Er gibt nicht auf. Dabei hätte er so oft Grund dazu ... | 
   
  
    
       
      Anderes Verhalten
     | 
     | 
   
  
    | Bei der Untersuchung und Diagnose einer kinder-
      und jugendpsychiatrischen Erkrankung sind Eltern, Psychologe und Facharzt
      stets gefordert, das Andere im Verhalten des Kindes genau zu
      erfassen. Es genügt nicht, auffälliges Verhalten einfach zu beschreiben,
      denn  Auffälligkeit ist subjektiv. Wir sehen nur, was wir uns anschauen.
      Eigentümliche Verhaltensweisen kennzeichnen nicht allein eine Person,
      sondern auch ihre Umwelt. Dabei geht es weniger um die Ursache bestimmten
      Handelns als vielmehr um die Wahrnehmung der Handlungen.
       Stellen wir uns eine Familie vor, in der seit mehreren Generationen
      einzelne Familienmitglieder Tics haben, d.h. unwillkürliche verbale oder
      motorische Äußerungen bzw. Bewegungen machen. Dabei zeigt die Mehrzahl
      der Angehörigen keine entsprechende Auffälligkeit. Dennoch werden die
      eigentümlichen Lautäußerungen und seltsamen Bewegungen der betroffenen
      Familienmitglieder als Teil der Familiengeschichte im Gedächtnis
      behalten. Weißt Du noch, als Onkel Theo bei Pauls Hochzeit ihm
      gratuliert hat. Alles Gute - fick dich! - und viel Spaß auf
      der Hochzeitsreise.  
      Stört Sie das "Fick dich!" an dieser Stelle der Homepage? In
      einer Familie mit Personen, die an der Gilles-de-la-Tourette-Störung
      leiden, beachtet man eine solche Äußerung meist gar nicht mehr.
      Obwohl das Gehirn der Tourette-"Erkrankten" offensichtlich
      gerade Impulsen nachgibt, die unerwünschte Verhaltensweisen anstoßen,
      verliert die "Krankheit" im Alltag der Betroffenen und ihrer
      Umwelt den Stellenwert des Besonderen. Sie wird zu einem Teil der
      Persönlichkeit - zumindest aus der Sicht der Partner, Geschwister und
      Kameraden, die den Betroffenen oft nur mit mehr oder weniger offensichtlichen Tics kennen. Vielleicht verliert so auch der nicht
      tic-gestörte Freund bisweilen die Hemmung vor dem Gebrauch der
      Fäkalsprache. Da er diese Wörter häufig hört und natürlich kaum
      jemand im Umfeld des Betroffenen sich in einer beständigen sinnlosen
      Kritik daran übt, tritt die übliche offene Empörung in den Hintergrund.
      Die besondere Wahrnehmung des Besonderen schwindet.
      Das heißt nicht, dass die Tics nicht als anderes Verhalten bemerkt
      werden. Für die Mutter eines Tourette-Kindes haben sie aber eine andere
      Bedeutung als für einen Lehrer oder den Passanten in einer
      Fußgängerzone. Auch wenn Tourette eine recht genau zu umschreibende
      Störung darstellt, so zeigt es seine unterschiedlichen Gesichter doch in
      der unterschiedlichen Anschauung der Umwelt eines Betroffenen. 
     | 
     
         
        
      Er schlug meine Hand beiseite. "Regen Sie sich
      ab, Alibi. Was ist mit Ihnen?" 
      "Tourette-Syndrom", antwortete ich im
      verbitterten Ton der Unentrinnbarkeit. Tourette war mein zweiter Name, und
      wie bei meinem richtigen Namen konnte mein Gehirn auch diese beiden
      Wörter nicht unangetastet lassen. Sogleich  produzierte ich mein
      eigenes Echo: "Tourette ist der Shitsohn!" Nickend, schluckend,
      zuckend, versuchte ich mich selbst zum Schweigen zu bringen, schritt
      schleunigst auf den Sandwichladen zu und hielt meinen Blick gesenkt, damit
      der Detective außerhalb meines Schulterradars blieb. Was auch nicht gut
      war, denn ich übertrieb, und als ich wieder ticte, artete es in Gebrüll
      aus: "Tourette ist der Shitsohn!" 
      "Er ist der Shitsohn, he?" Der Detective
      dachte anscheinend, wir würden gerade in super-heißem Straßenslang
      reden. "Kannst du mich zu ihm bringen?" 
      "Nein, nein, es gibt keinen Tourette",
      sagte ich nach Luft ringend. Ich war verrückt vor Hunger, verzweifelt
      darauf aus, den Detective abzuschütteln und wie gelähmt aus Angst vor
      weiteren Tics. 
      "Machen Sie sich keine Sorgen", sagte der
      Detective, um mich zu beruhigen. "Ich werde ihm nicht erzählen, wer
      ihn verraten hat." 
      Er dachte wirklich, er würde einem Singvogel
      schmeicheln. Ich konnte nur versuchen, nicht laut zu lachen oder
      loszuschreien. Sollte Tourette ruhig der Hauptverdächtige sein, wenn ich
      meinen Hals aus der Schlinge ziehen konnte. 
      Jonatham Lethem 
      Motherless Brooklyn 
      Tropen-Verlag (2001) S.135  | 
   
  
     | 
    
      Eine Störung sehen
     | 
   
  
     
        
      Als kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung
      bezeichnen wir einen Zustand unwillkürlich gestörter Lebensfunktionen,
      der durch Beginn, Verlauf und gegebenenfalls auch Ende eine zeitliche
      Dimension aufweist und ein Kind oder einen Jugendlichen entscheidend daran
      hindert, an den alterstypischen Lebensvollzügen aktiv teilzunehmen und
      diese zu bewältigen. 
      Helmut Remschmidt 
      zitiert nach: Franz Resch 
      Entwicklungspsychopathologie 
      des Kindes- und Jugendalters 
      Beltz PVU (1996) S.33f.  | 
    Die Subjektivität der Wahrnehmung, welche für
      das Tourette-Syndrom gilt, ist bei der Betrachtung jeder kinder- und
      jugendpsychiatrischen Störung von Bedeutung. Stets handelt es sich um
      Störungsbilder, die ein festes Syndrom darstellen, d.h. eine
      Gruppe von Empfindungen und Verhaltensweisen, die in der beobachteten
      Einheit für eine bestimmte Störung typisch sind. Nicht selten kann
      man für ein solches Syndrom heute bereits biologische Zusammenhänge
      benennen. Diese "natürlichen" Faktoren einer psychiatrischen
      Auffälligkeit sind zwar selten einfach zu verstehen und eindeutig in
      ihren Auswirkungen. Sie heben die meisten bekannten Störungsbilder jedoch
      über eine willkürliche Abgrenzung von einer ebenso willkürlich
      festgestellten Normalität hinaus.
       Kritiker der Psychiatrie und ihrer Krankheitslehre führen gegen die
      Störungsbilder in den heute gebräuchlichen Diagnose-Manualen
      (Deutschland: ICD-10) häufig ins Feld, die beschriebenen Symptome seien
      mehr oder minder ungenau und daher in vielen alltäglichen Situationen zu
      beobachten. Diese Sichtweise unterlässt meist einen vergleichbar
      kritischen Blick auf die Bedingungen der eigenen Wahrnehmung, die nicht
      weniger subjektiv und ungenau ist. Dem vermeintlich großzügigen
      Störungsbegriff der Psychiatrie wird so eine ebenso großzügige
      Auslegung der Normalität gegenüber gestellt. Dies nicht selten umso
      leichtfertiger, als mancher Kritiker mit den Auswirkungen gestörten
      Verhaltens im Alltag nicht konfrontiert ist. 
      Schließlich geht es der Psychiatrie als einem medizinischen Fach nicht
      um eine letztgültige Erklärung von Verhalten, sondern um den Umgang
      mit Verhaltensweisen, welche die individuelle Entwicklung und das Leben in
      der Gemeinschaft behindern. Ein hyperaktives Kind ist auch dann
      impulsiv und unruhig zu nennen, wenn es in einer Umwelt aufwächst, die
      sich daran nicht stört. Eine derartige "Unempfindlichkeit" der
      Mitmenschen kann von Vorteil sein, insoweit sie auffälliges Verhalten
      nicht mit Aufmerksamkeit belohnt und fördert. Gleichgültigkeit
      gegenüber dem eigentümlichen Verhalten oder gar Leugnung einer Störung
      können aber auch den Blick auf die anderen Anforderungen in einer anderen
      sozialen Umgebung verstellen. Ein Verhalten, das in der Familie noch
      tragbar erscheint, verhindert aufgrund mangelnder Anpassung in der Schule
      vielleicht den notwendigen Lernfortschritt. Weder Toleranz noch
      Empfindlichkeit, weder Erfolg noch Scheitern im Umgang mit
      Auffälligkeiten sind jedoch ein Beweis für oder gegen das Vorliegen
      einer psychiatrischen Störung! 
         | 
   
  
    
      Kriterien gestörten Verhaltens
     | 
     | 
   
  
    Genauso wie die
      normale Entwicklung 
      ist die abweichende Entwicklung ein selbstorganisierendes Phänomen,
      dessen endgültiger Ausgang jedoch in einem bedeutenden Grad
      fehlorganisiert ist. 
      Dies bewirkt, dass ...
      ... die Ausbildung neuer Strukturen 
      und Funktionen behindert, 
      ... die Form anderer, später 
      erscheinender verzerrt, 
      ... die Konstruktion von sonst nicht auftretenden ermöglicht und/oder 
      ... die Ausbildung und der Gebrauch 
      vorher entstandener begrenzt wird. 
      Petermann/Kusch/Niebank 
      Entwicklungspsychopathologie 
      Beltz PVU (1998) S.42  | 
    Jede kinder- und jugendpsychiatrische Störung
      ist durch eine Gruppe von Symptomen, d.h. in ihrem gemeinsamen
      Auftreten typischen Merkmalen der Person, ihrer Wahrnehmung, ihres
      Empfindens und ihres Verhaltens definiert. Eine zuverlässige Diagnose
      erfordert also den genauen Abgleich der kindlichen Verhaltensweisen mit
      verschiedenen Listen an Beschreibungen von Verhaltensmustern. Einzelne
      Symptome können in mehreren Störungsbildern vorkommen. Erst das Syndrom,
      d.h. eine bestimmte Einheit von gemeinsam auftretenden Symptomen,
      begründet eine Diagnose.
       Unabhängig von den Details eines umschriebenen  Störungsbildes gibt es
      übergeordnete Kriterien gestörten Verhaltens von Kindern und
      Jugendlichen. Sie bezeichnen keine psychiatrische Störung an sich,
      sondern sind die Voraussetzung eines Begriffs von abweichendem, gestörtem
      Verhalten. 
         | 
   
  
    | Anna hat Angst.
      Sie fürchtet sich vor dunklen Räumen, Hunden, Krankheiten, Schulproben.
      Ihre Freundinnen verstehen sie nicht: der Keller im Mietshaus sei doch
      nicht unheimlich, des Nachbarn Hund ein liebenswerter Spielkamerad, jede
      bedrohliche Krankheit fern und Anna eine gute Schülerin. Aber Anna
      schafft es nicht, draußen mit ihren Freundinnen zu spielen. In der Schule
      lähmt sie die Angst, obwohl sie im Grunde alles weiß und ihre Eltern
      kaum Wert auf gute Noten legen. Natürlich sieht Anna ein, dass sie keinen
      Grund hat, irgend etwas zu fürchten, und dennoch hat sie jede Freude an
      ihrem Leben verloren. | 
    1.
         
       
  | 
    Einschränkung
       das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen schränkt es bzw. ihn ein, 
      - aktuell so zu empfinden und/oder zu handeln, wie es für sein Alter und
      seine Lebensumstände üblich ist; 
      - Fähigkeiten und Fertigkeiten alters- und situationsgemäß nach eigenem
      Willen einzusetzen; 
      - Leistungspotentiale ohne besondere Förderung zu nutzen; 
      - seine Lebenssituation und/oder seine Zukunftsperspektive zu schätzen 
         | 
   
  
    | Alexander lacht
      eigentümlich. Auf Menschen, die ihn nicht kennen, wirkt das laute Lachen
      künstlich und ein bisschen provokativ. Egal, was man von ihm wissen
      möchte - er kommt sofort auf sein Lieblingsthema: Autos. Wenn man ihn
      überrascht, wird er wütend. Bereits zwei Minuten nach einem vereinbarten
      Termin geht er ungeduldig wartend den Flur auf und ab, gestikuliert mit
      den Händen und zittert schließlich am ganzen Körper. Er kann es nicht
      ertragen, wenn Besuch kommt und die Sitzordnung am Esstisch verändert
      wird. Manchmal erzählt er die gleiche Geschichte fünfmal hintereinander.
      Dabei bemerkt er nicht, dass andere sich langweilen oder widersprechen. | 
    2.
         
       
  | 
    Isolation
       das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen löst es bzw. ihn aus wichtigen
      sozialen Bezügen (Familie, Schule, etc.) heraus, sei es, weil 
      - andere das gestörte Verhalten und/oder die Person nicht akzeptieren; 
      - andere das gestörte Verhalten nicht verstehen und dieses Verhalten
      daher eine Kommunikation mit der Person erschwert oder gar verhindert; 
      - das gestörte Verhalten die Person daran hindert, sich soziale Bezüge
      zu erschließen und/oder sich innerhalb dieser Bezüge verständlich zu
      machen 
         | 
   
  
    | Robert kann sich
      durchsetzen. Er ist der Jüngste von vier Brüdern. Sein Vater ist
      Alkoholiker und in Frührente. Seit der Älteste aus dem Haus ist und die
      beiden Mittleren im Heim leben, kriegt Robert die Schläge ab. Das macht
      ihm aber nichts aus, denn er hat Wege gefunden, sich an seinem Vater zu
      rächen, indem er ihn beklaut und den Hund quält. Außerdem kann er in
      der Schule machen, was er möchte, denn aus seiner Familie geht eh niemand
      zum Elternabend. Ab und zu nimmt ihn sein Vater mit ins Stadion. Dann
      brüllen sie gemeinsam die gegnerischen A... nieder. Und wenn einer von
      denen aufmuckt, dann gibt's eine aufs Maul. Heimlich, so denkt er
      manchmal, muss sein Vater doch stolz auf ihn sein. | 
    3.
         
       
  | 
    Dysfunktionalität
       das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen stellt eine Behinderung
      seiner angepassten Entwicklung dar, indem es Aufgaben und Ziele der
      Entwicklung verändert, entwertet und/oder aufgibt bzw. unpassende oder unrealistische
      Aufgaben und Ziele nahe legt; damit ist nicht gesagt, dass das gestörte
      Verhalten für das Kind und seine Umwelt ziellos und ohne Sinn ist, wohl
      aber, dass es angesichts der absehbaren Lebensbedingungen in der Zukunft bestimmend und zugleich von Nachteil sein wird 
         | 
   
  
    | Stephanie hasst
      ihr Gehirn. Sie bekommt den Gedanken, dass ihrer Mutter oder ihrem Vater
      etwas zustoßen könnte, nicht aus dem Kopf. Und das Schlimmste: Sie denkt
      ständig, sie könnte diejenige sein, die plötzlich Lust hat, die
      eigenen Eltern zu ermorden. Mittlerweile zwängt sie ihren Tag in ein
      festes Schema an Dingen, die sie tun muss, damit der schreckliche Gedanke
      nicht wahr wird. Dass sie ihre Eltern liebt, empfindet sie nicht als
      Entlastung. Darauf kann sie sich nicht verlassen. | 
    4.
        
  | 
    Leidensdruck
       das Verhalten des Kindes oder Jugendlichen bedeutet für es/ihn selbst
      und/oder seine Umwelt eine spürbare Beeinträchtigung der
      Lebensqualität; diese Beeinträchtigung wird als unerwünscht,
      schmerzhaft und der eigenen Lebensplanungen entgegengesetzt erlebt 
         | 
   
  
    
      Von der Störung zur Diagnose
     | 
     | 
   
  
    | Es gibt eine Reihe einfacher Fragen, die Sie
      sich stellen können, wenn Sie hinter dem auffälligen Verhalten eines
      Kindes eine psychiatrische Störung vermuten. Ihre Antworten auf diese
      Fragen ersetzen freilich nicht die Diagnose durch einen Facharzt und
      Psychologen.
          | 
        
        | 
   
  
    | Fällt das infrage
      stehende Verhalten des Kindes nur mir auf?
       Wenn ja: Bin ich die/der Einzige, der in den Situationen, in
      welchen das Kind das auffällige Verhalten zeigt, bei ihm ist? Zeigt das
      Kind das auffällige Verhalten bewusst nur mir und/oder begünstige ich
      durch mein Verhalten bzw. meine Reaktionen auf die Auffälligkeit das
      Verhalten des Kindes? 
      Wenn nein: Sind andere, welche das auffällige Verhalten des Kindes
      sehen, in der gleichen Situation wie ich? Habe ich sie auf die
      Auffälligkeit angesprochen oder wurde sie mir spontan von anderen
      berichtet? Beschreiben andere wirklich die gleiche Auffälligkeit, die ich
      sehe? 
         | 
    David ist unruhig. Er hampelt ständig rum,
      vor allem beim Essen. Er geht mir manchmal so auf die Nerven! Wenn ich ihn
      schon sehe, wie er isst: den Mund voll, das Glas in der Hand und immer
      plappernd und gestikulierend. Ich ahne die Katastrophe, da schwappt die
      Milch auch schon über, der Honig tropft auf die Tischdecke, irgendwas
      schmeißt er immer um. Ich mag David, aber wenn das Leben nur aus
      Mahlzeiten bestünde, hätte ich ihn schon erschlagen ... Die Eltern
      seines besten Freundes haben sich bislang noch nicht beklagt. Eigentlich
      seltsam. Vielleicht benimmt er sich dort ja anders? | 
   
  
    | Inwiefern ist das
      infrage stehende Verhalten auffällig?
       Ist das Verhalten des Kindes auffällig verglichen mit 
      - früherem Verhalten des Kindes in vergleichbaren Situationen? 
      - Verhalten von anderen Kinder im gleichen Alter und in vergleichbaren
      Lebensbedingungen? 
      - Verhalten, das ich von einem Kind in seinem Alter und angesichts seines
      sozialen Hintergrundes erwarte? 
      In welchen Bereichen ist das Verhalten des Kindes auffällig? 
      - in seiner Wahrnehmung, d.h. scheint das Kind seine Umwelt nicht in
      gleicher Weise zu sehen und zu begreifen wie andere? (welche anderen?) 
      - in seinen Handlungen, d.h. verhält es sich anders (als wer?),
      unerwartet, unverständlich, unsinnig, zu seinem eigenen Nachteil (gesehen
      aus wessen Perspektive?), mit gefährlichen Konsequenzen? 
         | 
    Irgendwie kommt mir Katharina in letzter Zeit
      verändert vor. Eigentlich war sie schon immer eher ein stilles Mädchen.
      Dann hat sie sich noch mehr zurückgezogen, verkroch sich den ganzen Tag
      in ihr Zimmer und wollte mit niemandem reden. Jetzt ist es plötzlich
      umgekippt. Egal, worauf man sie anspricht - sie schreit einen an, macht
      allen Vorwürfe, geht keinem Streit aus dem Weg. Erst dachte ich, dass das
      mit der Pubertät zusammenhängt. Das sagen einem doch immer alle zur
      Beruhigung, die kriegt sich schon wieder ein, das ist nur eine Phase. Auch
      in der Schule ist sie verändert, sagt die Lehrerin. Mal sitzt Katharina
      geistesabwesend da, dann lacht sie unvermittelt oder bricht in Tränen
      aus. Früher, ja da war sie still, aber sie machte keinen unglücklichen
      Eindruck. Heute verhält sie sich anders, irgendwie künstlich und
      unerreichbar. | 
   
  
    | Welche Gründe gibt es
      aus meiner Sicht für das infrage stehende auffällige Verhalten des
      Kindes?
       Ist ein Grund für das auffällige Verhalten erkennbar? Sehe nur ich
      diesen Grund oder benennen ihn (spontan) auch andere? Kann das Kind einen
      Grund für sein Verhalten nennen? Macht der für mich oder andere
      erkennbare Grund Sinn? Wie reagiert das Kind, wenn ich es mit meinen
      Mutmaßungen zum Grund seines Verhaltens konfrontiere? Ist es für
      mich, andere oder das Kind selbst entlastend, einen Grund für das
      auffällige Verhalten zu wissen? Ist der Grund, den ich sehe,
      attraktiv, weil er mich (meinen Erziehungsstil, mein Verhalten, meine
      Familiengeschichte) entlastet? 
         | 
    Ich verstehe Sophie einfach nicht. Sie ist
      doch so begabt! Und eigentlich war sie in der Schule nicht schlecht.
      Vielleicht hätte sie etwas mehr lernen sollen, aber wegen der 5 in Mathe
      hätte sie das Gymnasium nicht hinschmeißen dürfen. Mein Mann und ich,
      wir sind nicht kleinlich, was die Schule anbelangt. Das waren wir auch bei
      Sophies Schwester nicht, und die hat das Abitur schließlich auch gemacht.
      Aber bei Sophie weiß man nie, was sie möchte. Wir waren bei diesem
      Psychologen, der auf Rechenschwäche spezialisiert ist. Er hat Sophie
      getestet und eine Therapie vorgeschlagen. Er hat gesagt, dass Sophies
      Selbstwertgefühl unter den Lernschwierigkeiten gelitten habe und dass man
      das in der Therapie auch behandeln könne. Ich fand das eine gute Idee,
      aber Sophie will von dem "Psycho-Scheiß" nichts wissen. | 
   
  
    | Was will ich gegen das
      infrage stehende auffällige Verhalten des Kindes tun?
       Stört mich das auffällige Verhalten des Kindes? Will ich etwas gegen
      dieses Verhalten tun? Mit welchem Ziel will ich etwas dagegen tun? Wem
      nützt das Ziel, d.h. wer profitiert von der gewünschten Veränderung
      des kindlichen Verhaltens? Will nur ich was gegen das auffällige
      Verhalten tun oder äußern auch andere (spontan) entsprechende Wünsche
      und/oder Absichten? Sind meine Ziele und die Ziele der anderen die
      gleichen oder wenigstens vereinbar? Sehe ich das auffällige Verhalten
      nur, weil es mich stört? Oder sehe ich vielleicht andere Auffälligkeiten
      nicht, weil sie mich nicht stören? Wie verändert mein Blick auf das
      auffällige Verhalten meinen Umgang mit dem Kind? Wie sehe ich andere,
      die anders mit meinem Kind umgehen? Welche Bedeutung hat das
      auffällige Verhalten für meine Kontakte zu anderen? Brauche ich das
      auffällige Verhalten des Kindes im Umgang mit anderen, z.B. als Grund
      für Kontakte, im Streit mit dem Partner, auf der Suche nach Hilfe?  | 
    So kann es nicht weitergehen. Seit Monaten
      spricht Philipp kein Wort mehr mit mir. Eigentlich spricht er mit
      niemandem mehr. In der Schule lassen sie ihm das durchgehen, obwohl sein
      Lehrer es auch seltsam findet. Mitarbeit ungenügend, aber die
      Hausaufgaben macht er und die Proben schreibt er mit. Ich finde, ein Kind muss
      mit seinen Eltern sprechen. Er kann nicht einfach schweigen. Wir
      möchten ihm doch helfen, aber wenn er nicht mit uns spricht?! Angeblich
      hat er einen guten Kontakt zu seinem Opa, aber ich traue meinem Vater
      nicht. Ich weiß, dass er andere Ansichten zu Philipps Erziehung hat, aber
      wir sind seine Eltern, nicht Oma und Opa. Nächste Woche haben wir
      noch einen ambulanten Termin beim Kinder- und Jugendpsychiater. Wenn das
      nicht hilft, wird er stationär in die Psychiatrie aufgenommen. | 
   
  
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      Wege zur Therapie
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      Manchmal traf mein Blick den von Doktor
      Santens. Dann blinzelte er mir heimlich zu. Er wusste genauso gut wie ich,
      was meine Mutter noch alles erzählen würde. Er kannte ihre Litanei
      auswendig. Sein Wartezimmer war voller Patienten, aber er ließ sie
      einfach weiterreden, bis sie fertig war. Gute Ärzte schauen nicht auf die
      Uhr. 
      "Zum Glück ist das jetzt
      vorbei", seufzte meine Mutter. "Er ist zwar immer noch einen
      Kopf kleiner als andere Kinder von vier, aber jetzt isst er wenigstens.
      Nur zum Fleisch muss ich ihn noch zwingen. Und wenn man ihn Butterbrot mit
      Schokoladencreme essen sieht, könnte man sogar meinen, er sei normal.
      Aber..." 
      Aber. Wenn meine Mutter bei ihrem
      medizinischen Bericht über mich etwas Gutes sagt, kannst du darauf
      wetten, dass ein Aber folgt. Sie ließ eine kurze Stille entstehen, damit
      die Tragweite dessen, was sie nun sagen wollte, auch ganz klar wurde. 
      "Aber er ist oft so abwesend,
      Doktor." 
      "Na ja", sagte Doktor Santens,
      "das findet man oft bei Kindern. Man kann sie nicht zu Hause
      einsperren. Dauernd rennen sie auf die Straße. Sie wollen mit ihren
      Freunden spielen." 
      Willy van Doorselaer 
      Ich heiße Kaspar 
      Carl Hanser (1995) S.12  | 
    Ihre Einschätzung als Beobachter des Kindes ist
      entscheidend. Wenn Sie als Eltern, Lehrer oder Erzieher, die Sie im Alltag
      mit dem Kind umgehen, seine Verhaltensauffälligkeiten nicht wahr- und
      ernstnehmen, wird das Kind keine Hilfe erhalten.  Auch das fachliche Urteil
      von Ärzten und Psychologen muss sich im wesentlichen auf Ihre Aussagen
      stützen, denn Sie kennen die Persönlichkeit des Kindes und seine
      Geschichte besser.
       Niemand stellt seine Fehler und Probleme von sich aus zur öffentlichen
      Diskussion. Daher wird ein verhaltensauffälliges Kind vielleicht der
      äußeren Beschreibung einzelner kritischer Verhaltensweisen beipflichten
      und bisweilen sogar die negativen Konsequenzen seines Verhaltens
      eingestehen. Kaum aber wird es von sich aus um die Behandlung seines
      Verhaltens bitten. Meist versuchen Kinder und Jugendliche, wie wir
      Erwachsenen auch, aus der gegebenen Situation "das Beste" zu
      machen - und das heißt: mit den Problemen weiterzumachen. Die  Logik einer
      Verhaltensstörung  ist deshalb genauso zwingend und hartnäckig wie das
      gesunde Selbstbewusstsein, das aus positivem Verhalten und sozialer
      Anerkennung resultiert. So wenig wie Schwierigkeiten automatisch das
      positive Selbstbild einer Person angreifen, so selten führen sie zur
      aktiven Suche nach Hilfe. 
      Hilfe im Umgang mit seinem Problemverhalten erreicht ein
      verhaltensauffälliges Kind also nur dann, wenn andere ihm diese Hilfe
      antragen. In der Mehrzahl der Fälle heißt das letztlich: Sie als  Eltern
      
      zwingen Ihr Kind zu Diagnose und Behandlung; Sie als  Lehrer oder Erzieher
      
      regen die Eltern zu einer diagnostischen Abklärung an; Sie als 
      Therapeuten  gehen gemeinsam mit den Eltern den Gründen der von Ihnen
      beobachten Auffälligkeiten nach. Warten Sie nicht auf Besserung in der
      Hoffnung, das fragliche Verhalten "wachse sich aus". Dies tut es
      nur, wenn es zum einen allein auf der augenblicklichen Stufe der
      Entwicklung von Bedeutung ist; zum anderen ist die entscheidende
      Voraussetzung des Auswachsens, dass das Kind ansonsten die seinem Alter
      gemäßen Entwicklungsaufgaben meistert, d.h. die Auffälligkeit nicht
      gerade eine Behinderung der gesunden Entwicklung darstellt. Häufig ist
      das aber nicht so, denn die Störung gehorcht wie die Normalität eigenen
      Regeln, einer eigenen Logik, die sich wie jedes Leben ständig
      fortschreibt.  | 
   
  
    
       
      Erste Schritte
     | 
      | 
    
      in der Situation von ...
     | 
   
  
    | Welche Schritte sind sinnvoll, wenn Sie glauben, das
      auffällige Verhalten eines Kindes bedürfe der Abklärung?
          | 
    ... Eltern 
      ... Lehrern und Erziehern 
      ... Therapeuten | 
   
  
    | Eltern
         
      Klinische Psychologie: 
      Anwendungs- und Forschungsfeld der Psychologie,
      dessen Gegenstände die Entstehung, Klassifikation, Diagnostik und
      Therapie psychischer Störungen bzw. psychischer Aspekte somatischer
      Störungen sind. Die Klinische Psychologie ist in Deutschland neben
      der Arbeits-, Betriebs- und Organisationspsychologie und Pädagogischer
      Psychologie ein mit Vertiefungsfach angebotenes Ausbildungsfach der
      Diplomprüfungsordnung für Psychologen. 
      Wörterbuch zur Psychologie 
      dtv (1994) S.235 
        
      Kinder- und Jugendpsychiatrie: 
      Die Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie
      umfasst die Erkennung, nichtoperative Behandlung, Prävention und
      Rehabilitation bei psychischen, psychosomatischen, entwicklungsbedingten
      und neurologischen Erkrankungen oder Störungen sowie bei psychischen und
      sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter. 
      Definition der Bundesärztekammer 
        
      Bitte beachten Sie: 
      Sowohl die Facharztausbildung des Kinder- und
      Jugendpsychiaters als auch die Ausbildung des niedergelassenen
      Psychotherapeuten sind keine Studienfächer an Universitäten,
      sondern in ihrer Qualität stark variierende Programme in Kliniken, Praxen
      und privaten Schulen. 
      Obschon sie kein Medizin- oder Psychologiestudium
      absolviert haben, arbeiten auch nach Inkrafttreten des 
      Psychotherapeutengesetzes 1999 in Deutschland viele approbierte
      Psychotherapeuten ohne einschlägige medizinische und psychodiagnostische
      Fachkompetenz. 
      Es ist richtig und wichtig, den fachlichen Fähigkeiten
      von Ärzten, Psychologen und Therapeuten zu vertrauen. Informieren Sie
      sich dennoch nach Möglichkeit durch Gespräche mit Bekannten oder Eltern
      anderer verhaltensauffälliger Kinder, in Büchern oder mittels Internet
      über die von ihnen beobachteten Eigenheiten im Verhalten Ihres Kindes.
      Fragen Sie sich stets kritisch, inwieweit Beschreibungen und Erklärungen
      dieser Informationsquellen tatsächlich auf Ihr Kind zutreffen, seriös
      und unparteiisch sind. 
        | 
    Wenn Sie sich die oben genannten Fragen gestellt
      haben und der Meinung sind, das auffällige Verhalten Ihres Kindes sollte
      durch einen Fachmann abgeklärt werden, so stehen Ihnen i.d.R. mehrere
      Kontaktstellen zur Verfügung.
       - Erziehungsberatungsstellen: Sie gibt es in den meisten
      Städten unter verschiedenen Trägern wie z.B. öffentliche Hand, Kirche,
      Sozialverbänden oder Vereinen. 
      - Jugendamt / Jugendhilfe: Für Ihre Familie gibt es ein
      zuständiges Jugendamt, das i.d.R. auch kompetente Beratung bei Sorgen im
      Umgang mit dem Kind bietet; große Jugendämter unterhalten bisweilen
      einen ärztlich-psychologischen Fachdienst oder kooperieren mit dem
      entsprechenden Sozial- und/oder Gesundheitsreferat am Ort. 
      - Klinische Psychologen: Wahrscheinlich gibt es in ihrer Stadt
      bzw. Ihrem Landkreis einen approbierten, d.h. vom Staat und den
      gesetzlichen Krankenkassen zugelassenen Kinder- &
      Jugendpsychotherapeuten. Beachten Sie, dass Psychotherapie in
      Deutschland kein Studienfach ist, sondern an privaten Schulen gelehrt
      wird. Viele zugelassene Psychotherapeuten sind keine Psychologen mit
      klinischem Schwerpunkt; unabhängig von der therapeutischen Kompetenz
      ist die Diagnostik von Nichtpsychologen ohne klinisches Studium häufig
      unbefriedigend. 
      - Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie:
      Diese Mediziner  sind Spezialisten für die psychiatrischen
      Störungen des Kindes- und Jugendalters. Die Facharztqualifikation wird
      durch eine fünfjährige Ausbildung im Job sowie eine abschließende
      Facharztprüfung erworben. Nur Ärzte dürfen Medikamente verschreiben -
      den bei allen Vorbehalten kurzfristig oft wirksamsten Hilfsmitteln in der
      Behandlung von psychisch gestörten Kindern und Jugendlichen. Leider ist
      der diagnostische und psychotherapeutische Teil der Facharztausbildung
      bescheiden und manche Praxen verfügen nicht über entsprechend
      qualifiziertes psychologisches Fachpersonal. Dennoch sollten v.a. bei
      unvermittelt auftretenden Verhaltensstörungen Kinder- und
      Jugendpsychiater gleich die erste Anlaufstelle sein. 
      - Ambulanzen in kinder- und jugendpsychiatrischen Kliniken: Sie
      verbinden i.d.R. medizinische und psychologische Angebote und vereinen
      aufgrund des großen Anteils auch schwieriger "Fälle" bisweilen
      mehr Know-how an einem Ort. 
      - Kinderärzte / Pädiater: Obwohl hier an letzter Stelle
      genannt, sind sie ein guter Ansprechpartner für jede Art von Krankheiten
      im Kindes- und Jugendalter. Oft macht es Sinn, eine beobachtete
      Auffälligkeit des Kindes, sofern deren Behandlung nicht dringlich
      erscheint, zunächst im Rahmen eines Routinebesuch beim Kinderarzt
      anzusprechen. Dieser kennt meist nicht nur Kind und Familie gut, sondern
      hat im Rahmen der Facharztausbildung häufig auch Erfahrungen in der
      kinder- und Jugendpsychiatrie gesammelt. 
         | 
   
  
    | Lehrer und
      Erzieher
         
      Artikel 6 Grundgesetz
      
       
      (2) Pflege und Erziehung der Kinder sind
      das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende
      Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft. 
      (3) Gegen den Willen der
      Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der
      Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder
      wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen. 
      § 1629 BGB 
      Vertretung des Kindes
      
       
      (1)
      Die elterliche Sorge umfasst die Vertretung des Kindes. Die Eltern
      vertreten das Kind gemeinschaftlich; ist eine Willenserklärung gegenüber
      dem Kind abzugeben, so genügt die Abgabe gegenüber einem Elternteil.
       § 1631 BGB 
      Inhalt und Grenzen der Personensorge
      
       
      (1) Die Personensorge umfasst insbesondere
      die Pflicht und das Recht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu
      beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen. 
      (2) Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie
      Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere
      entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. 
      § 1631a BGB 
      Ausbildung und Beruf
      
       
      In Angelegenheiten der Ausbildung und des
      Berufs nehmen die Eltern insbesondere auf Eignung und Neigung des Kindes Rücksicht.
      Bestehen Zweifel, so soll der Rat eines Lehrers oder einer anderen
      geeigneten Person eingeholt werden.
      | 
    Sie haben professionell mit Kindern zu tun. Der
      Blick von Lehrern und Erziehern auf das Verhalten eines Kindes ist
      verständlicherweise durch den Auftrag bestimmt. Wichtig ist für Sie
      letztlich das Verhalten in der Gesellschaft, - sei es die Schulklasse,
      eine Kindergartengruppe oder eine Heimgemeinschaft. Diese sozialen
      Situationen, die v.a. im Fall der Schule mit oft ungeliebten Anforderungen
      besetzt sind, stellen für verhaltensauffällige Kinder meist eine
      besondere Schwierigkeit dar. Daher sind auch Sie als Betreuer in
      besonderem Maße (heraus-)gefordert.
       Zugleich sind Ihnen durch die Rechte des Kindes und der
      Erziehungsberechtigten die Hände gebunden. Jede Initiative, die eine
      Beurteilung des kindlichen Verhaltens durch Dritte zum Ziel hat, muss
      mit den Erziehungsberechtigten abgesprochen werden. Als einzige
      Ausnahme ist hier eine Gefährdung des Kindes oder anderer Personen durch
      das fragliche Verhalten anzuführen. Aber auch dann sollten Sie nur in
      Kontakt mit den zuständigen Behörden (i.d.R. Jugendamt, Sozialdienst
      oder Polizei) treten und ansonsten nichts ohne Zustimmung der Eltern bzw.
      Erziehungsberechtigten unternehmen.  
      So ist es beispielsweise nicht erlaubt, Probleme offen mit Dritten zu
      besprechen - vom mit dem Kind am Arbeitsplatz befassten Team abgesehen -
      oder in Gegenwart von weiteren Verwandten (Großmutter, Tante, etc.) und
      Bekannten (Eltern von Kameraden o.ä.) des Kindes zu diskutieren. Ebenso
      dürfen Sie nicht ohne Zustimmung der Erziehungsberechtigten Informationen
      über das Kind einholen, und sei es auch nur, um Ihre "Diagnose"
      und den akuten Handlungsbedarf zu untermauern. Rechtsverstöße sind
      auf diesem Gebiet keine Seltenheit, verbessern im Zweifelsfall Ihre
      Position jedoch nicht. Psychologisch macht es ohnehin wenig Sinn, die
      Eltern, die i.d.R. das Sorgerecht ausüben, zu umgehen, denn das Kind
      selbst kommt an den Eltern nicht vorbei. Ihm wird es stets besser gehen,
      wenn eine Lösung gefunden wird, die auch die Eltern konstruktiv
      einbezieht. Nur so können nämlich eine übergreifende Strukturierung des
      Problemverhaltens und die Loyalität des Kindes allen Beteiligten
      gegenüber gewährleistet werden. 
      Welche Maßnahmen sind also in der Position des Lehrers oder Erziehers
      zu erwägen? 
        
     | 
   
  
    | 
         
      An Heilner war ihnen ohnehin von jeher ein gewisses
      Geniewesen unheimlich - zwischen Genie und Lehrerzunft ist eben seit
      alters eine tiefe Kluft befestigt, und was von solchen Leuten sich auf
      Schulen zeigt, ist den Professoren von vorneherein ein Greuel. Für sie
      sind Genies jene Schlimmen, die keinen Respekt vor ihnen haben, die mit
      vierzehn zu rauchen beginnen, mit sechszehn in die Kneipen gehen, welche
      verbotene Bücher lesen, freche Aufsätze schreiben, den Lehrer
      gelegentlich höhnisch fixieren und im Diarium als Aufrührer und
      Karzerkandidaten notiert werden. Ein Schulmeister hat lieber einige Esel
      als ein Genie in seiner Klasse, und genau betrachtet hat er ja recht, denn
      seine Aufgabe ist es nicht, extravagante Geister heranzubilden, sondern
      gute Lateiner, Rechner und Biedermänner. Wer aber mehr und Schweres vom
      anderen leidet, der Lehrer vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr
      Tyrann, mehr Quälgeist ist und wer von beiden es ist, der dem anderen
      Teil seiner Seele und seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man
      nicht untersuchen, ohne mit Zorn und Scham an die eigene Jugend zu denken.
      Doch ist das nicht unsere Sache, und wir haben den Trost, dass bei den
      wirklich Genialen fast immer die Wunden vernarben und dass aus ihnen Leute
      werden, die der Schule zum Trotz ihre guten Werke schaffen und welche
      später, wenn sie tot und vom angenehmen Nimbus der Ferne umflossen sind, anderen
      Generationen von ihren Schulmeistern als Prachtstücke und edle Beispiele
      vorgeführt werden. 
      Herrmann Hesse 
      Unterm Rad (1903) 
      st 52 (1972) S.90f. 
       
       
      | 
    
       - Sprechen Sie mit den Eltern: Wenn Sie in der Schule oder einer
      Gruppe Probleme mit offensichtlichen Verhaltensauffälligkeiten eines
      Kindes haben, dann haben die Eltern sie auch; je verständnisvoller Sie
      auf die Eltern zugehen und ihnen die Bewältigung des Problems zutrauen,
      desto eher werden diese ihre Schwierigkeiten eingestehen und auch einer
      professionellen Untersuchung des Kindes zustimmen. Einzige Ausnahme ist
      hier der Fall, dass Ihr Bericht absehbar zum Anlass genommen würde, das
      Kind in unverantwortlicher Weise zu behandeln - z.B. dass die Eltern das
      Kind auf Ihre Aussage hin körperlich bestrafen könnten. Raten Sie Eltern
      immer dazu, professionelle Hilfe zu suchen, d.h. das Kind zunächst von
      Fachleuten untersuchen zu lassen. Übernehmen Sie keinesfalls die
      Erziehung des Kindes, indem Sie in die Rolle des "besseren
      Betreuers" schlüpfen oder eigenständig Erziehungsberatung
      betreiben. 
      - Konsultieren Sie Fachdienste in Ihrer Einrichtung: Nehmen Sie
      Kontakt mit (Schul-)Psychologen oder vergleichbaren Spezialisten an Ihrer
      Arbeitsstelle auf, denn deren Umgang mit dem Kind ist am ehesten durch die
      Zustimmung der Erziehungsberechtigten zum Besuch der Einrichtung gedeckt.
      Dennoch ist es rechtlich zweifelhaft, ob selbst interne Experten über das
      für die Einrichtung Notwendige hinaus ohne Wissen und Billigung der
      Erziehungsberechtigten Daten erheben (z.B. systematische Beobachtung,
      psychologische Tests, etc.) oder gar das Kind "behandeln"
      dürfen. 
      - Nutzen Sie die Supervision: Halten Sie das Verhalten eines
      Kindes für dringend untersuchungsbedürftig, sind aber im Zweifel über
      den geeigneten Weg zu diesem Ziel, so besprechen Sie das in Supervision
      mit den dafür zuständigen Personen. Gibt es in Ihrer Einrichtung keine
      Supervision durch Außenstehende - was leider nicht nur in Schulen,
      sondern selbst in therapeutischen Heimen oft der Fall ist -, so fordern
      Sie die notwendige Begleitung Ihrer Arbeit durch Vorgesetzte ein. Im
      Klartext: Mischt ein Steppke Ihre Schulklasse auf und das Problem ist
      innerhalb der Klasse nicht zu lösen, muss die Schulleitung ran; ein
      kleiner
      "Vandale" im Kindergarten oder eine Jugendliche mit Tendenz zur
      Selbstverletzung sind keine Aufgabe allein für Gruppenerzieher und
      können innerhalb einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen meist nicht
      ohne erhebliche Nachteile für die anderen Gruppenmitglieder aufgefangen
      werden. Auch wenn viele Einrichtungen bzw. ihre Leitungen glauben,
      Supervision könne oder müsse man sich sparen: Supervision ist kein
      Notnagel scheiternder Pädagogik oder Therapie, sondern eine wichtige
      Voraussetzung für Professionalität. 
      - im Extremfall, wenn Sie keine andere Alternative sehen
      und/oder Gefahr im Verzug ist: Nehmen Sie Kontakt mit dem zuständigen
      Jugendamt auf, nachdem Sie die Eltern über diesen Schritt informiert
      haben. Auch wenn Sie gegen den erklärten Willen der Eltern handeln, ist
      es wichtig, diese zunächst von Ihrer Entscheidung in Kenntnis zu setzen;
      machen Sie jedoch Ihren Entschluss nicht von der Reaktion der Eltern
      abhängig, um dem Vorwurf der "Erpressung" zu entgehen. 
       
      | 
   
  
    | Therapeuten
         
      Der kleine Taschentherapeut 
      Wer sich mit Psychologie beschäftigt hat, der hat
      gelernt, dass jeder Mensch einzigartig ist. Diese wichtige Tatsache wird
      aber oft außer acht gelassen, und so bekommen wir es oft mit allen
      möglichen allgemeinen Erkenntnissen, Zahlenangaben und statistischen
      Durchschnittswerten zu tun, die für uns als Individuum keinerlei
      Aussagekraft haben. [...] 
      Ähnliches gilt für die Psychotherapie: Zu viele
      Therapeuten haben ihre Standardkur, die sie auf alle und jeden anwenden.
      Oft kann aber eine Behandlungsform, die für den einen hervorragend
      geeignet ist, für den anderen ausgesprochene Nachteile bergen. 
      Ein wirklich guter Therapeut schneidet die Behandlung
      auf Ihre besonderen Bedürfnisse zu und versucht Sie nicht ins Korsett
      seiner bevorzugten Methoden zu zwängen. 
      Unsere Devise lautet: Einen Durchschnittsmenschen
      gibt es nicht - jeder ist einzigartig. 
      Achten Sie darauf, dass ein Therapeut Ihre ganz
      individuellen Bedürfnisse sorgfältig mitbedenkt, wenn es zum Beispiel
      darum geht, was Sie essen, welche Medikamente Sie einnehmen, wieviel
      Schlaf und Erholung Sie sich gönnen, wieviel Bewegung Sie sich
      verschaffen oder welche Art von Sport Sie treiben sollen. Versuchen Sie,
      wenn Ihnen eine therapeutische Maßnahme nicht gut zu tun scheint, einen
      Experten hinzuzuziehen, der den Behandlungsplan genauer auf Sie
      zuschneiden kann. 
      Gehen Sie nicht einfach davon aus, dass ein
      bestimmtes Medikament, eine Vorgehensweise oder eine Behandlungsmethode
      das Richtige für Sie sein muss, weil alle anderen so viel davon halten. 
      Arnold & Clifford Lazarus 
      Der kleine Taschentherapeut 
      Klett-Cotta (1997) S.243f. 
     | 
    Vielleicht fragen Sie sich an dieser Stelle, ob
      das nicht ein bisschen anmaßend ist, dass man Ihnen rät. Sie sind
      Therapeut* - was immer diese Bezeichnung in Deutschland oder andernorts
      bedeutet - und selbst professionell mit der Diagnose und/oder Behandlung
      von auffälligem Verhalten befasst. Vielleicht finden Sie hier nichts, was
      Ihnen weiterhilft. Dann sind Sie vermutlich in ein gutes und stabil
      funktionierendes Netzwerk an eigenen Angeboten und abrufbaren fremden
      Hilfen eingebunden. Denn Therapie meint Dienen - Dienst und
      Dienstleistung. Auch wenn die Institutionalisierung von Therapieangeboten
      sowie die Einbindung der Therapeuten in eine Vielzahl an Tarifen und
      Gesetzen es bisweilen vergessen lassen: Es geht um Hilfe für andere,
      nicht um ideologischen Therapeutenstreit und die eigene Praxis. [* Arzt,
      Heilkundiger, im 18. Jahrhundert aus dem griech. therapeutes = Diener,
      Pfleger abgeleitet]
       Die Qualität eines Therapeuten - gleich ob Arzt, Psychologe oder
      Psychotherapeut - hängt von zwei Fähigkeiten ab, die oft nicht gemeinsam
      gegeben sind: Erstens vom Wissen und Können in der Therapie;
      zweitens vom Wissen, was man nicht kann, und dem Willen,
      sich und den Klienten durch andere helfen zu lassen. Während die
      Leistungen und Erfolge vieler Therapeuten in ihrer täglichen Arbeit
      beachtlich sind, ist das Verharren in etablierten Denk- und
      Behandlungsmustern erschreckend. Nicht wenige verhaltensauffällige Kinder
      werden ungenügend therapiert, weil empirische Kenntnisse ignoriert und
      selbst die eigenen Erfahrungen der Therapeuten durch Schuldenken
      korrumpiert werden. Vorbehalte gegen bestimmte Professionen oder ihre Mittel
      führen oft zu langen und bitteren Störungsverläufen, weil unwirksame
      Behandlungsformen über Gebühr angewandt und alternative Konzepte
      aufgrund von Unkenntnis und Vorurteilen nicht erwogen werden. 
      Der Arzt muss wissen, was die Psychodiagnostik und Psychotherapie (auch
      jenseits der eingeschränkten Facharztausbildung) vermag, und umgekehrt
      braucht Psychotherapie ein Bewusstsein ihrer Grenzen gegenüber
      medizinischem Wissen und medikamentöser Therapie. Bei der gleichen
      Störung sind oft  mehrere Therapien hilfreich,  doch sie haben angesichts
      beschränkter Zeit und Mittel  nicht die gleiche Berechtigung. Neben
      lokaler Verfügbarkeit, Wirksamkeit, Verträglichkeit und Kosten wird ein
      entscheidendes Kriterium therapeutischen Handelns oft vergessen:
      Einfachheit. Es ist keine moralische Frage an den Therapeuten, sondern das
      Recht des Klienten und bisweilen auch seiner Umwelt, die einfachste
      Behandlung der Störung zu wählen. Für jede Form von Therapie an und mit
      Kindern, ganz gleich ob Schneiden oder Sprechen, Pillen oder
      Psychotherapie gilt: Zu Wirksamkeit, Dauer, Risiken und Nebenwirkungen
      fragen sie einen Arzt, Psychologen, Psychotherapeuten, sich selbst - und
      vor allem das Kind! 
      Was können Therapeuten tun, die Sinn und Zweck der Behandlung eines
      Kindes hinterfragen wollen - und wo findet man Hilfe bei offenen Fragen? 
         | 
   
  
    | 
         
        
      Meine Langzeittherapien mit Zoe und
      Christine und, mit Unterbrechungen, auch mit Solinis Expatient Thorny
      waren planlose, improvisierte Ausflüge mit seltenen vielversprechenden
      Momenten gewesen, die dann doch wieder folgenlos blieben. Zoe war wieder
      in Toshiba, zur Entgiftung, und Christine war zwar zurückgekommen, aber
      nur um über Bozers Heilerisierung zu sprechen. Wie, fragte ich mich,
      funktioniert eine Therapie? Wie geht es zu, wenn sich Menschen verändern?
      Tun sie es überhaupt? Funktioniert eine Therapie überhaupt? 
      Samuel Shem 
      Mount Misery 
      Knaur (2000) S.311 
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    - Evaluieren Sie Ihre Therapien. Geht es
      dem Klienten und seiner Umwelt in genau dem Bereich besser, dessenthalben
      Sie um Ihre Hilfe gebeten wurden? Ist diese Verbesserung nach
      wissenschaftlicher Vernunft und gesundem Menschenverstand tatsächlich auf
      die gewählte Methode und die durchgeführte Intervention
      zurückzuführen?
       Für einen guten Handwerker ist es selbstverständlich, dass er seinen
      Kunden keinen Pfusch hinterlässt. Therapeuten sind in diesen Dingen nicht
      selten großzügiger. Allzu leicht werden mangelnde Effekte der Therapie
      für die Lebensqualität der Klienten geleugnet, durch unwesentliche
      Veränderungen verdeckt oder nicht zu verantwortenden Faktoren in der
      Umwelt des Klienten angelastet. Wenn Sie Therapie ernst nehmen, dann
      treten Sie an, Menschen in  den  Situationen zu helfen, in welchen diese
      sich Ihnen vorstellen. Verhindern Umstände bei einem Klienten den
      Therapieerfolg, ist die gewählte Therapie für  diesen  Menschen unter
      
      diesen  Umständen nicht geeignet. Therapieformen, die das auffällige
      und problematische Verhalten von Kindern beeinflussen sollen, nach
      spätestens einem Jahr jedoch keine Verbesserung des in Frage
      stehenden Verhaltens bewirken, sind für Kinder und Jugendliche
      untauglich! Jeder vermeintliche Effekt einer psychotherapeutischen
      Langzeitbehandlung (z.B. durch jahrelange Kinderanalyse) ist ebenso gut
      durch reifungs- und entwicklungsbedingte Prozesse im Leben des Kindes zu
      erklären. Für praktisch alle psychotherapeutischen Interventionen im
      Kindes- und Jugendalter steht bis heute der Beweis aus, dass sie
      langfristig gesünder sind als keine Behandlung. 
      - Behandeln Sie nur in Bereichen, wo Sie auf einem verantwortbaren
      Stand des Wissens sind. Aus- und Fortbildung werden in unserem
      Gesundheitssystem - aber nicht nur dort! - noch immer viel zu wenig
      geachtet und betrieben. Man kann nicht für alle Krankheiten und jede
      Personengruppe Experte sein. Das Wissen über Diagnose und Behandlung von
      psychischen Erkrankungen wandelt sich rasch - und nirgendwo schneller als
      auf dem Feld der Kinder- und Jugendpsychologie und -psychiatrie. Vor allem
      aus dem erweiterten Wissen um den Zusammenhang von Anlage, Umwelt und
      Entwicklung können vielfach bessere Therapien abgeleitet werden. Medizin
      und Psychotherapie ignorieren diese Fakten trotz breiter Basis an Befunden
      oft viele Jahre, bis sich statt Verharren in alten Behandlungsschemata
      oder esoterischen Alternativen sinnvolle neue Standards in der Behandlung
      von Kindern durchsetzen. 
      -  Ziehen Sie konsiliarisch Hilfen zu Rat. Viele die Psyche betreffenden
      Veränderungen können nicht ohne medizinisches Wissen verstanden und
      diagnostiziert werden.
      95 Prozent der Ärzte und 90 Prozent der Psychotherapeuten haben
      andererseits wenig psychologische Fertigkeiten für Interventionen in Familien - 
      eine
      Grundvoraussetzung der Behandlung kindlicher Verhaltensauffälligkeiten.
      Gespräche mit einem Kind, mit einem Elternteil oder Paar, mit Geschwistern oder
      einer ganzen Familie zu führen sind verschiedene Anforderungen, die
      bisweilen recht unterschiedliche Kompetenzen verlangen. Das Gespür für
      die vielen Ebenen von Kommunikation in
      Familien muss man erwerben und trainieren, vom Erstkontakt bis zum
      zur Verabschiedung aus der Therapie. Es ist nicht weniger zu lernendes
      Wissen als Fakten über den Stoffwechsel es sind. Der Austausch mit
      Fachleuten auf anderem Gebiet ist daher in aller Regel durchaus ein
      Gewinn. 
      - Arbeiten Sie niemals gegen die Familie. Wer mit
      verhaltensauffälligen Kinder arbeitet, der weiß, dass die hartnäckigsten
      Störungen jene sind, die im Umfeld ambivalenter Beziehungen gedeihen.
      Dabei ist es gleich, ob allein diese Beziehungen die Störung
      hervorgerufen haben (eher selten der Fall) oder aber die Fehlentwicklung
      auf Grundlage einer primären Disposition des Kindes erfolgte. Gegen die
      Familie zu arbeiten heißt, Beziehungen zu zerstören, statt den in ihnen
      lebenden Menschen zu helfen. Therapeuten sind nicht die Mütter oder
      Väter der Kinder, die sie behandeln. Sie haben daher kein Recht, sich
      zwischen Eltern und Kind zu stellen. Auf ein Kind, dem durch die
      Entmachtung der Eltern geholfen wird - auch als Schutz vor
      Vernachlässigung oder Misshandlung - kommen zehn Kinder, die im Dilemma
      von Liebe und Verrat verzweifeln. Kinder sind von Natur aus loyaler als
      Erwachsene; sie ertragen Beziehungen oder zerstören sie. Leutseligkeit
      oder Ablehnung in einer therapeutischen Beziehung sind nur ein matter
      Abglanz von Liebe und Hass in Familien - und sie tragen nicht einen
      Bruchteil der Strecke, die Eltern und Kinder gemeinsam zurücklegen
      müssen. 
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      Lassen Sie sich nicht stören!
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       Ich hatte nie zuvor Eltern kennen gelernt, die so
      rasch bei der Wurzel ihres Lebens angekommen waren, beim Kern ihres
      eigenen - und wahrscheinlich auch ihres Sohnes - Unglück. Der Verlust,
      den diese Mutter beschrieb, ist so eng in das Familienleben verwoben, dass
      er selten ausgesprochen wird, selbst dann nicht, wenn er gerade geschieht.
      Es ist ein Verlust, der wohl nur durch den realen Verlust eines Kindes
      übertroffen wird. Die Beziehung, die sie verlor, ist die Lebendigkeit,
      die jeden Austausch zwischen Eltern und ihrem Kind beflügelt und allem,
      was Eltern für ihre Familien tun, die Kraft verleiht. Man sagt, dass der
      Tod unserer Eltern uns der Vergangenheit beraubt.  Ein Kind zu
      verlieren bedeutet aber, die Zukunft zu verlieren. Wie wahr erschien mir
      das für diese Mutter, die spürte, wie die Bindung zwischen ihr und ihrem
      Kind schwand. Sie konnte sich eine Zukunft ohne die Liebe und Freundschaft
      ihres Kindes nicht vorstellen, das sie doch einst so genau kannte.
      [...]  Sie lesen dies vielleicht
      gerade, weil auch Sie spüren, dass Sie Ihr Kind verlieren. Ihr Kind hat
      ADHD - und Sie haben Ihr Bestes gegeben, ihm und der Familie zu helfen,
      sich an diesen Umstand anzupassen. Aber es klappt einfach nicht... Russell
      A. Barkley 
      Taking Charge of ADHD 
      New York (2000) S.3 
      übersetzt von J. Streif
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    | Egal, ob Sie Mutter, Vater, Lehrer oder
      Therapeut eines verhaltensauffälligen Kindes sind - wichtig ist Ihr
      eigenes Empfinden im Umgang mit dem Kind. Verhalten ist eine
      spürbare Veränderung, die sich nicht aus sich selbst heraus erklären
      kann. Deshalb ist Verhalten nur in der Gemeinschaft verstehbar. Manche
      Psychologen und Pädagogen sagen, das gestörte Verhalten eines Kindes sei
      eine Form der Kommunikation, letztlich stets ein Hilferuf. Doch wenn dem
      so wäre, müssten wir allen Störungen soziale Gründe und/oder Abhilfen
      unterstellen. In vielen Fällen ist die Verhaltensauffälligkeit jedoch
      gerade der Beginn vom Ende der Kommunikation. Ja vielleicht ist es
      sogar ein Kernsymptom mancher kindlichen Verhaltensstörung, dass das
      Sprechen in der Familie zunehmend misslingt, dass die Freude aneinander
      schwindet und die Gemeinschaft mit der Krankheit des Kindes zu zerfallen
      beginnt.
       Der amerikanische Neuropsychologe und Experte für ADHD, Russell A.
      Barkley, hat das als prägendes Erlebnis mit der Mutter eines hyperaktiven
      Kindes geschildert. Sie war wie viele in seine Sprechstunde gekommen und
      er erwartete zunächst die übliche Liste an Klagen über das Kind. Die
      Mutter aber sagte nur: "I'm losing my child." Barkley
      verstand nicht. Sie erklärte ihm, was sie erlebte: dass ihr Sohn sich von
      ihr abwendete, sie mied, von seinem Erleben ausschloss; dass das Unglück
      miteinander die Freude beider auffraß, weil sie unfähig waren, sich in
      Streit und Not des Alltags noch zu lieben. 
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      und Ratgeber, die Ihnen Listen von Symptomen, Geschichten von
      Auffälligkeit und Ausgrenzung präsentieren! Diese Schemata sind für
      Fachleute, die das Kind nicht kennen. Für Sie als Eltern beginnt die
      Störung des Kindes, mehr noch: ihres eigenen Lebens in der Familie, wenn
      sie das Kind nicht länger lieben können, wie es ist. Für Sie als
      Lehrer beginnt die Störung des Kindes, wenn der Umgang mit ihm Ihre Freude
      am Unterrichten zerstört. Für Sie als Therapeuten beginnt die Störung
      des Kindes, wenn Sie spüren, dass Ihre Arbeit weder Eltern noch Lehrern
      hilft, das Kind anzunehmen, das an ihrer Anerkennung und Erziehung wachsen
      soll. 
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