| 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 |  | 
   
  
     | 
     
     | 
     | 
   
  
    |  
        
       
         | 
    Als Niklas ins Heim kam, war er zehn Jahre alt.
      Er war klein, aber kräftig, charmant und von gewinnendem Äußerem, stets
      unruhig, oft wild und von einer extremen, aber sehr kontrollierten
      Aggressivität. In den Tests der Psychologen wurde er für überdurchschnittlich
      begabt befunden, allerdings wenig frustrationstolerant und zumeist
      ostentativ gelangweilt. Er verfügte über ein für sein Alter weit
      fortgeschrittenes Gespür für soziale Kontexte, gebrauchte die
      Informationen jedoch nur zu destruktiven Aktionen. Es dauerte keine vier
      Wochen, bis er die Erzieher des Heimes polarisiert hatte, einige für sich
      eingenommen, andere sich zu ehrvollen Feinden gemacht. Die Schnittstelle
      zeichnete frühere Brüche des Personals nach: Hierarchiekonflikte, Alter
      und die bisherigen Jahre in der Institution, Parteilichkeiten gegenüber
      anderen Heimkindern und private Probleme der Mitarbeiter. Bei den anderen
      Kindern war Niklas umstritten. Er löste in jedem von ihnen ambivalente
      Gefühle aus: Achtung und Angst, Zuneigung und Hilflosigkeit, Ablehnung
      seiner Dominanz und zugleich Respekt vor der Sicherheit seiner kreativen
      Abgrenzungen.
         
     | 
   
  
    | Niklas Mutter war zu diesem Zeitpunkt 37,
      geschieden und alleinerziehend. Sie kam aus der gehobenen Mittelschicht
      und arbeitete als Pharmazeutin in einer Großstadtapotheke. Sie hatte mit
      23 einen damaligen Rechtsreferendar geheiratet, den Sohn einer Familie aus
      der Bekanntschaft ihrer Eltern. Mit 25, gerade zwei Monate nach ihrem
      Examen, bekam sie ihr erstes Kind: Martin. Zu dieser Zeit war ihr Mann als
      Rechtsanwalt in die Sozietät seines Vaters eingetreten. Die Familie bezog
      eine große Wohnung in der Stadt und war viel- und gerngesehener Gast bei
      gesellschaftlichen Ereignissen. Zwei Jahre später kam ihr zweiter Sohn
      Niklas. Obwohl die Schwangerschaft dieses Mal nicht durch die Anspannung
      der Examensvorbereitung gezeichnet war, erschien sie ihr anstrengender und
      schmerzhafter. Niklas war in ihrem Bauch ein unruhiges Kind, doch kam er
      schließlich nach genau neun Monaten und völlig komplikationslos zur
      Welt. Sie musste ihn früh abstillen, da er die Nahrung verweigerte; das
      Problem legte sich nach wenigen Monaten. Bis zum Alter von sechs oder
      sieben Jahren verlief das Familienleben nun vordergründig ohne Zwischenfälle.
          | 
     
        
  | 
   
  
    |  
        
  | 
    Die Anwaltssozietät ihres Schwiegervaters war
      in den siebziger und frühen achtziger Jahren zu einer großen Praxis
      angewachsen. Wirtschaftlich bestand für ihn keine Notwendigkeit mehr, täglich
      den Amtsgeschäften nachzugehen. Sein Sohn übernahm daher als
      designierter Nachfolger zunehmend Leitungsfunktionen, ohne allerdings
      rechtlich in die Führung einzutreten. Dennoch beanspruchte die Arbeit
      mehr und mehr Zeit, wobei Kontakt und permanente Rücksprache die junge
      Familie stark an seine Eltern band. Niklas Mutter empfand die entstandene
      Enge als einschränkend und forderte ihren Mann zu mehr Distanz, Eigenständigkeit
      und einem sichtbareren Bekenntnis zur eigenen Familie auf. Sie fühlte
      sich mit der Erziehung der Kinder alleingelassen, obschon sie ihr
      offenkundig keine Schwierigkeiten bereitete und ihr mütterlicher Rat in
      zahlreichen Engagements rund um Kindergarten und Schule geschätzt wurde.
      Das berufliche Avancement und die Reputation ihres Mannes ließen in ihr
      den Wunsch aufkeimen, endlich im eigenen Fach tätig zu werden. Aufgrund
      ihrer sozialen Stellung und weil sie kompensatorisch viele nichtberufliche
      Verpflichtungen eingegangen war, ließ sie diesen Wunsch lange nicht
      gelten.
          | 
   
  
    |  
        
  | 
    Martin war ein eher ruhiges, bedächtiges,
      gelegentlich fast behäbiges Kind. Er stellte wenig Forderungen an seine
      Umwelt, konnte sich in Gruppen Gleichaltriger leicht integrieren und darüber
      hinaus auch stundenlang alleine beschäftigen. Niklas dagegen war schwer
      einzuschätzen: Einerseits zeigte er oft eine Neigung zum Rückzug, die
      zumindest äußerlich der Selbstgenügsamkeit des Bruders entsprach;
      andererseits forderte er dann überraschend Aufmerksamkeit, unmittelbare
      Reaktion auf sein Verhalten und Zuwendung ein. Zunächst wehrte sich seine
      Mutter gegen diesen Anspruch auf Verfügbarkeit kaum, zumal - als Martin
      noch nicht in die Schule ging - ihre repräsentativen Aufgaben geringer
      waren und Niklas als ein kleines Kind galt, dem solches Verhalten
      zugebilligt wurde. Dann aber wurde sie Elternbeiratsvorsitzende in Martins
      Schule, arbeitete für einen Wohltätigkeitsfond, den die Kanzlei ihres
      Schwiegervaters unterstützte, und musste für die fortschreitende
      Karriere des Mannes häufiger die standesgemäße Begleiterin bei
      Abendgesellschaften geben. Die zunehmenden Abweisungen schienen Niklas zu
      kränken, denn bald fand er sich auch durch Zuwendung nicht mehr leicht
      zur Kooperation bereit. 
        Dies war umso schwieriger, als er den häufig
      anwesenden Babysittern immer wieder kleine Aufstände bereitete und auch
      seine Großeltern die gelegentlichen Betreuungsbesuche nicht wirklich schätzten.
      Niklas Zuneigung schien aus Enttäuschung über die Mutter auf den Vater
      überzugehen. Er sehnte sich nach dessen spätabendlicher Heimkehr und
      zeigte sich nach einem trotzig durchlebten Tag ihm gegenüber
      aufgeschlossen, ruhig und fast ängstlich um ein paar gemeinsame Minuten
      bemüht. Fand der Vater an Wochenenden einige Stunden Zeit, mit seinen
      Kindern zu spielen, forderte Niklas beständig seine Aufmerksamkeit. Das
      Interesse des Vaters galt allen Arten von technischem Spielzeug. Martin,
      zwei Jahre älter als Niklas und von behutsamer Langsamkeit, erwies sich
      bei seinen Konstruktionen als äußerst geschickt. Niklas Gebilde hingegen
      waren von großen Entwürfen, konventionslosen Vorstellungen und wilden
      Realisationen geprägt. Für die mangelnde Einsicht des Kindes in das
      technisch Mögliche und Alltagstaugliche hatte der Vater wenig Verständnis.
      Er kehrte als vernünftiger Erwachsener mit Martin in die Kinderzeit zurück,
      erlaubte sich das Spiel ohne Preisgabe seiner reifen Einsichten. Niklas
      schaute den beiden zunächst bewusst interessiert, dann erregt durch die
      Ausgrenzung und eifersüchtig-enttäuscht zu. Schließlich zog er sich in
      sein Zimmer zurück und zeigte keine Bestrebungen mehr, mit dem Vater
      spielen zu wollen. Er lehnte sich nie gegen ihn auf und schien doch nicht
      mehr auf ihn zu zählen. 
         | 
   
  
      | 
    Mit Niklas erstem Schuljahr wurden die Probleme
      aus dem engen Familienrahmen hinausgetragen, - sie wurden für Außenstehende
      manifest. | 
   
  
    |  
        
  | 
     
        Die Mutter konnte ihre widersprüchlichen Gefühle Niklas,
      seinem Verhalten und seinen Perspektiven gegenüber nicht mehr im dunklen
      Begriff des 'schwierigen Kindes' zusammenfassen und ablegen. Ihr jüngerer
      Sohn war begabt, er lernte leicht, konnte und wusste mehr, als zu
      verlangen war. Allerdings brachte er sich in die Gruppe nicht ein. Er
      kontrollierte seine Beziehung zu Lehrern und Mitschülern willkürlich mit
      einem raschen Wechsel von Teilnahme und Rückzug, impulsiven Beiträgen
      und totaler Verweigerung. Durch Martin seit zwei Jahren bereits in
      offizieller Funktion auf Elternseite an der Schulleitung beteiligt,
      erlebte sie Niklas Probleme als persönlichen Konflikt: Wie konnte sie die
      pädagogischen Interessen der Eltern vertreten, wenn ihre eigene Pädagogik
      sichtlich zu scheitern drohte? Dabei hatte sie diese Aufgabe wie alle
      anderen Ämter ihres sozialen Engagements aus einer gesellschaftlichen
      Position heraus übernommen, deren Vertreter angetreten waren, ihre bürgerliche
      Wohlstandsethik in der Familienideologie zu konkretisieren. Jetzt, nachdem
      sie ihre Erziehung, die von den Eltern mitbeförderterte eheliche
      Verbindung, ihre familiären Beschränkungen und die Flucht ins standesüblich
      Soziale zur Herzensangelegenheit gemacht hatte, begann die erarbeitete
      Alternative blass zu werden. Aber war es denn wirklich nur eine
      Alternative? Sie liebte ihren Mann, die Kinder, ihr Engagement, ja ihr
      ganzes Leben doch tatsächlich. Sie hatte allen Grund, dankbar zu sein.
      Und wäre eine andere Entwicklung überhaupt denkbar gewesen? Sie war
      Akademikerin, konnte wirtschaftlich für sich selbst sorgen, doch hatte
      sie nie gearbeitet. Ihre Freunde und Bekannten waren Freunde und Bekannte
      ihres Mannes. Ihre gesellschaftliche Stellung, die sie zweifellos genoss,
      entsprach der Stellung ihres Mannes. Selbst ihre Perspektiven waren die
      Perspektiven ihres Mannes geworden, denn sie hatte bislang nicht einen
      Gedanken darauf verwendet, sich ohne ihn zu denken. Ihn auszunehmen
      bedeutete, die eigene Geschichte vollkommen umzuschreiben, die Kinder zu
      isolieren, das bisherige soziale Leben aufgrund der Kinder aufzugeben, die
      Freunde und Bekannten zurücklassen, auf alles zu verzichten, was an der
      Reputation des Mannes partizipierte. Dieses Leben war ihr einziges Leben, so
      wie es war, ihre Identität. Wie konnte es geschehen, dass ein verhältnismäßig
      kleines und übliches Problem, nämlich die Schulschwierigkeiten ihres jüngeren
      Sohnes, ihre Welt - oder zumindest ihre Vorstellung davon - an den Abgrund
      ihrer Zweifel brachte? 
         | 
   
  
    | Durch ihre persönlichen Kontakte zu Niklas
      Lehrern konnte seine Mutter erreichen, dass diese sein eigentümliches
      Verhalten hinnahmen, solange es den Unterricht nicht massiv störte.
      Dennoch konsultierte sie mit ihm eine psychologische Beratungsstelle,
      deren Ratschläge in zwei Richtungen wiesen: Zum einen eine psychiatrische
      Evaluation Niklas, was der Vater als unnötig ablehnte; zum anderen eine
      Erziehungsberatung, die allerdings die ganze Familie miteinschließen
      sollte. Für sie hatte der Vater keine Zeit. | 
      | 
   
  
    |  
       Überhaupt konnte er die ihm
      zugetragenen Probleme nicht nachvollziehen, verhielt sich Niklas ihm gegenüber
      doch stets zurückhaltend und äußerst beherrscht. Die Großeltern, seine
      Eltern zumal, hatten zwar Niklas trotzige Ausbrüche und Unzugänglichkeit
      erlebt, sahen den Grund aber im nachlässigen Erziehungsverhalten der
      Mutter. Vielleicht hatten sie recht? Sie versuchte, sinnvolle Forderungen
      an Niklas rigider durchzusetzen, nach Erklärungen nicht auf Gehorsam zu
      verzichten, doch fand sie nicht Mut noch Zeit, ihn und sich durch die
      langen Kämpfe zu verletzen. Außerdem: Bei Martin schien die gleiche
      Erziehung gute Ergebnisse zu zeitigen. Und viele Veranstaltungen mit
      Familien bewiesen ihr, dass sie sehr wohl Kraft und Autorität hatte, mit
      Kindern angemessen umzugehen. Niklas war anders. 
         | 
   
  
    |  
        
  | 
    In der dritten Klasse kam es zum offenen
      Konflikt. Martin hatte aufs Gymnasium übergewechselt und seine Mutter ihr
      Amt im Elternbereit der Grundschule niedergelegt. Auf Niklas wollte sie
      kein repräsentatives Engagement in der Schule gründen, weil sie fürchtete,
      sich für ihn und sein Verhalten rechtfertigen zu müssen. Lehrer und
      Direktion rieten ihr, Niklas aus der Klasse zu nehmen und auf einer Schule
      für auffällige Kinder anzumelden. Sie wusste, dass hinter der
      vorsichtigen Bitte der Druck einiger Eltern stand. Sie war bereit,
      nachzugeben. Mein Sohn soll auf eine Sonderschule?! Ihr Mann reagierte empört
      und argumentierte auf der juristischen Ebene gegen die
      Umschulungsnotwendigkeit. Als sie eine dieser Erziehungs- schulen in der Nähe
      besuchte und die Kinder sah, distanzierte sie sich und Niklas mit einem
      inneren Aufschrei: So gestört ist mein Kind nicht! Zuhause nahm sie ihren
      Sohn in den Arm, schloss die Augen und hielt ihn lange fest, als könnte
      sie danach aus einem bösen Traum erwachen. An diesem Abend rastete Niklas
      das erste Mal aus, verwüstete sein Kinderzimmer und konnte sich die halbe
      Nacht nicht beruhigen. Seine Mutter fuhr mit der Hand durch sein Haar, wie
      er weinend in seinem Bett lag. Der Vater saß am Bettrand und redete auf
      ihn ein. Niklas reagierte nicht. Zehn, fünfzehn Minuten waren eine
      Geduldsleistung für den abgearbeiteten Vater. Sein Blick wanderte müde,
      enttäuscht, gedemütigt, ärgerlich über die teuren Geschenke der
      letzten Jahre, die zerstört am Boden lagen. Dann verlangte er von Niklas,
      dass er aufhörte zu weinen; dass alles gut sei, doch so etwas nie wieder
      vorkommen dürfte; dass er einsah, dass es so nicht weitergehen könnte; dass
      er ihn ansah, damit der Vater wusste, ob er verstanden hatte; dass jetzt
      andere Zeiten kommen würden, im guten wie im schlechten; dass der Vater
      sich solches Verhalten nicht länger würde gefallen lassen; dass das
      Gleiche für die Mutter gelte; dass er endlich aufhörte, zu weinen. Als
      der Vater Niklas schlagen wollte, was er nie zuvor getan hatte, wusste die
      Mutter, dass sie sich scheiden lassen würde.
          | 
   
  
    |  
        
  | 
    Die ausdrücklich gewordene Scheidungsabsicht
      entwertete das bisherige Leben schlagartig. Die Vorwürfe wegen der Abhängigkeit
      ihres Mannes von seinen Eltern, das Gefühl des Alleingelassenseins mit
      der Familie, das Scheitern in Niklas Erziehung, die nun reflektierte
      Flucht in das vielfältige soziale Engagement, alles summierte sich zu
      einer großen Selbstanklage. Dazu das Unverständnis des Mannes, der
      Wechsel von Beschwichtigung und Verdächtigung, von Bitte um Neuanfang und
      dem Aufwerfen unüberbrückbarer Gegensätze. Hatten beide nicht zuvor
      bereits Grund zur Scheidung, - nach Monaten des ausgesprochenen
      Scheidungswunsches waren Gründe genug geschaffen. Ihr Mann drohte, mit
      jedem ihm zur Verfügung stehenden Mittel um sein Sorgerecht zu kämpfen.
      Einen Augenblick hatte sie Angst, alles zu verlieren. Doch er sah ein, dass
      er für die Kinder keine Zeit hatte, und Niklas konnte er nicht wollen.
      Seinen Wunsch, ohne Scheidung auseinander zu gehen, lehnte sie ab. So kam
      es zu einer geräuschlosen Trennung. Über Freunde vermittelte er ihr eine
      Stelle als Apothekerin.
          | 
   
  
      | 
    Martin
      ertrug die Scheidung mit stoischer Ruhe. In allem, was einem Kind
      entsprach, unterstützte er seine Mutter, doch er machte niemandem Vorwürfe
      und stellte keine Fragen. Er war sehr selbständig, forderte keine Hilfe
      und zeigte kein Bedürfnis, sich anderen mitzuteilen.  | 
   
  
    |  
        Niklas hingegen
      reagierte auf die Veränderungen mit der ganzen unbeherrschten Ambivalenz
      seiner Gefühle. Die neue Wohnung, der neue Umgang und schließlich auch
      die neue Schule faszinierten ihn, zogen ihn an, ängstigten ihn,
      provozierten seinen Widerstand. Mal war er über Tage und Wochen ruhig und
      zugänglich, dass die Mutter sich fragte, wie sein Verhalten die Veränderungen
      herausgefordert haben konnte. Sobald sie sich mit dem Vergessen
      anfreundete, ihre Geschichte in ihrem Kopf umzuschreiben begann, rastete
      er wieder aus. Sie fand keine Vorzeichen für diese Momente, so sehr sie
      ihn auch beobachtete. Sich selber konnte sie nicht ansehen. Niklas
      Ganztagsschule erlaubte ihr zeitlich die Arbeit, und finanziell versorgten
      sie Mann und Eltern längst ausreichend. Die Angst vor den schlechten
      Tagen und Nächten aber, in denen Niklas Einsamkeit, Verzweiflung und Wut
      sich ins Unerträgliche steigerten und in ihr und der Wohnung schließlich
      Chaos hinterließen, fraß sie langsam auf.  | 
   
  
    |  
        
  | 
     
       Auch ihr Verhältnis zu Martin
      änderte sich, da sie sich fast ausschließlich um Niklas Belange kümmern
      musste. Obwohl Martin sich nie auf Konflikte einließ, entfremdeten die Brüder
      sich. Wie sehr Niklas an seinem gequälten Bruder hing, wurde erst spürbar,
      als dieser sich zumindest innerlich von ihm abwandte. Wie er den Vater
      nicht mehr sehen wollte, so drohte Niklas auch diese Verbindung vollkommen
      zu zerstören, sobald sie seiner Kontrolle entglitt. Nachdem die Scheidung
      formal vollzogen war, ließ seine Mutter ihn psychiatrisch untersuchen und
      kontaktierte das Jugendamt. Um die Familie zu retten, glaubte sie, sie
      jetzt auflösen zu müssen. Vier Monate später war Niklas im Heim.
      Aggressive Verhaltensstörung, Impulskontrollstörung, Dissozialität, Störung
      der Mutter-Kind-Beziehung, Hyperkinetisches Syndrom mit Aufmerksamkeitsstörung,
      depressive Züge und fast autistoide Rückzugs- und
      Selbststimulationstendenzen. So sehr sich seine Mutter auch einredete, dass
      all diese Vokabeln nichts mit ihr, ihrem Erziehungsstil, ihren Absichten,
      ihren Kompetenzen, ihrer Geschichte und ihren Lebensentwürfen zu tun
      hatten, - sie wurde das Gefühl nicht los, verloren zu haben. Mehr noch:
      Sie gab sich die Schuld. Sie rechnete die Ressourcen ihrer Bürgerlichkeit
      gegen ihre Abweichung von der Ideologie auf. Wo sie gezögert hatte,
      entdeckte sie rückblickend Handlungsaufforderungen. Wo sie sich
      entschieden hatte, sah sie von der Entscheidung nur Wege in den Abgrund,
      die zerstörte Familienidylle, die Pathologie des Kindes, die
      Diskreditierung durch das Heim und die eigene Verzweiflung. Und wenn sie
      nach der Arbeit in ihre aufgeräumte Wohnung zurückkehrte und Martin das
      Abendessen bereits gerichtet hatte, war der Schmerz übergroß, mit dem
      sie sich nach Niklas unbeherrschter Gegenwart sehnte. Seinen Impulsen
      wollte sie sich unterwerfen, um ihrer eigenen Freiheit, dem vernichtenden
      Gefühl der Verantwortung zu entkommen. Wenn sie in den ersten Wochen und
      Monaten ohne Niklas weinte und Martin seinen Arm tröstend um sie schlang,
      wusste sie, dass sie auch ihm Unrecht tat. Sein Verständnis machte sie
      wieder zu dem Kind, das sie sein wollte und nicht mehr sein durfte. Dafür
      verurteilte sie sich wieder und wieder. 
     | 
   
  
     | 
     
       Wie sieht die Familie heute ihre Situation und Geschichte? 
      Lesen Sie die Stellungnahmen der
      Betroffenen.  | 
   
 
  |